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Die Ukraine vor der KommunalwahlDie Wacht an der Donau

Lenin steht fest auf dem Sockel und Maidan-Aktivisten haben wenig Einfluss, dafür manch seltsame Idee. Ein Besuch im ukrainischen Donaudelta.

Es hat in Ismajil noch keiner geschafft, den Lenin vom Sockel zu stürzen Foto: Bernhard Clasen

Ismajil taz | In Kiew haben sie Lenin vom Sockel gestürzt. Hier in Ismajil im Donaudelta ragt er an einer mächtigen Straßenkreuzung direkt vor der Stadtverwaltung in den Himmel. Es scheint, als würde das Gesetz zur „Entkommunisierung“, das jegliche Sowjetsymbolik verbietet, in der Stadt an der rumänischen Grenze mit ihren rund 80.000 Einwohnern nicht gelten. Kiew ist weit, 700 Kilometer.

Fast scheint es, dass sich prowestliche Gruppen verstecken müssten. Gleich bei der Haltestelle, wo die Fernbuslinien von Odessa und Kiew enden, findet sich auf einem Hinterhof ein kleines NGO-Büro für mehrere politische Gruppen. Die Aktivisten haben sich bei den Protesten vor eineinhalb Jahren auf dem Maidan kennengelernt, nun teilen sie sich die Räume.

Wer hinein möchte, muss sich bücken, so tief hängen die schweren Trauben. Der Herbst in der Südukraine ist eine Zeit süßer Fülle. Drinnen im Büro aber hängen bittere Hinweise auf die politische Gegenwart an der Wand – Plaketten von Putin, wo er wie Hitler aussieht, Nato-Aufkleber, ukrainische Fähnchen und eine Karte von Bessarabien – so lautet der historische Name der Region zwischen Odessa und Donaudelta, die aber auch die Republik Moldau mit einschließt. Auf dem Tisch stehen auch Trauben.

„Ich bin viersprachig aufgewachsen“, erzählt Witali Pejkow, der Ortsvorsitzende der Partei „Gromadjanska Posizia“, zu Deutsch: „Bürgerliche Position“. „Und das ist etwas Besonderes. Die meisten in Ismajil sind nur dreisprachig.“ Der pensionierte Oberstleutnant mit seiner hageren Statur und dem festen, militärischen Blick hat einen bulgarischen Vater und eine albanische Mutter. Als Offizier im Kosovo arbeitete er vor allem als Albanisch-Dolmetscher. Bessarabien sei traditionell von vielen Nationalitäten bewohnt, fährt er fort. Allein in Ismajil gebe es 33 Ethnien. Doch fast die Hälfte der Bevölkerung seien ethnische Russen. Danach kämen Bulgaren und Rumänen.

Nicht jeder freut sich über die Vielfalt. „Eigentlich sind uns nur zwei Nachbarn wohlgesinnt“, wirft Igor Skorobrecha ein, „Belarus und die Slowakei.“ Alle anderen Staaten hätten Ansprüche auf Bessarabien, allen voran Rumänien, das sich zwischen 1918 und 1940 die Region einverleibt hatte. Der stämmige Skorobrecha, im Stadtrat immer noch Abgeordneter der aufgelösten Partei „Starke Ukraine“, fühlt sich bedroht.

Angst vor Russland und Rumänien

Viele Rumänen träumten von einer „Rückgabe“ dieser Gebiete, glaubt er. Deswegen befürwortet er, dass die rumänische Volksgruppe vom Inlandsgeheimdienst beobachtet wird. Das Vielvölkergemisch seiner Heimat scheint ihm schon lange schlaflose Nächte zu bereiten. Ungarn, Rumänien und Bulgarien stellten allen Bürgern der Ukraine, die ethnisch ihre Landsleute seien, Pässe aus, fährt Skorobrecha fort, und wer so einen Pass habe, könne in die EU reisen. „Wir empfinden diese Passvergabe als Provokation“, schimpft er. Auch Russland sei in Abchasien und Südossetien so vorgegangen und dann einmarschiert, um russische Bürger zu schützen.

Oberstleutnant a. D. Pejkow hat schweigend zugehört. Es sei in der Tat einfach, einen zweiten Pass zu erhalten, pflichtet er bei. Er sei sich sicher, dass er wegen seines bulgarischen Namens einen bulgarischen Pass bekomme. Ansonsten widerspricht Pejkow vehement. Angesichts der russischen Aggression seien Spannungen mit den nationalen Minderheiten fatal.

Falsch sei allerdings auch, die Verbreitung der ukrainischen Sprache derart massiv zu fördern. Viele Menschen hier verstünden Ukrainisch nicht so gut wie Russisch. Und so kauften sich viele eine Satellitenschüssel für russisches TV, erzählt er. „Sie sind es einfach leid, immer nur Ukrainisch zu hören.“ Pejkow warnt: „Wer sich im russischen Fernsehen informiert, ist für eine europäisch orientierte Ukraine verloren.“

„Wir haben doch eine wunderbare Luftwaffe“

Es sind nicht die vielen Ethnien, es ist etwas anderes, was Pejkow umtreibt. Er zweifelt an Präsident Petro Poroschenko, der nicht weit von hier in Bolhrad geboren wurde. Poroschenko kämpfe nur mit halber Kraft, unkt er. Dann macht er einen verwegenen Vorschlag: „Wir haben doch eine wunderbare Luftwaffe. Warum setzt Poroschenko sie nicht endlich im Donbass ein?“

Allzu viel Anhänger scheint Pejkow nicht zu finden. Der Veteran hat mit seinem Ratschlag gewartet, bis sich seine Kollegen in dem kleinen NGO-Büro längst aus dem Gespräch ausgeklinkt haben. Und auch politisch ist das Ansinnen verwegen. Seine „Bürgerliche Position“ scheiterte 2014 bei den Parlamentswahlen an der Fünfprozenthürde, auch bei der Kommunalwahl am 25. Oktober dürfte sich der Zuspruch nicht vergrößern.

Zum Abschied holt Witali Pejkow mit geheimnisvollem Blick ein Bündel – eine riesige ukrainische Fahne. „Diese Fahne kann ich hier in unserem Büro gar nicht ausrollen“, entschuldigt er sich. „Sie ist hundert Meter lang. Mit ihr sind wir auf allen Demonstrationen für eine europäisch orientierte Ukraine gewesen.“

Olga, die verzagte Deutsche

Eine Nationalität haben die beiden gar nicht erwähnt, so als gäbe es sie nicht mehr – die Deutschen. Wenige Kilometer von Ismajil wohnt Olga Lapschina in Nekrassiwka. Sie ist trotz ihres russischen Namens Deutsche und Vorsitzende des „Deutschen Hauses“. Sechzig Mitglieder habe der Verein der hier lebenden Deutschen. Doch gerade einmal zehn sprächen Deutsch, gesteht Lapschina. Auch sie selbst zieht es vor, Russisch zu reden.

Immer wieder spüre man Vorbehalte, erzählt sie. So komme es vor, dass ihr jemand bei einem Streit „Faschistin!“ entgegenschleudere. Trotz ihres russischen Namens wüsste ihr Umfeld, dass sie Deutsche ist. Lapschina macht einen müden Eindruck. Am liebsten würde sie wohl nach Deutschland ausreisen, was auch möglich wäre. Allerdings nicht für ihre Mutter, und deshalb bleibt sie.

Das Vereinsleben spiele sich weitgehend am Telefon ab, nur zu Weihnachten und Ostern treffe man sich. „Es ist schon seltsam“, seufzt sie. „Die Deutschen hier in der Ukraine werden ignoriert, die Deutschen aus Deutschland hingegen umworben.“ So habe sie vor zwei Jahren den Bürgermeister von Ismajil gebeten, sie wegen des 200. Jahrestages der deutschen Besiedlung Bessarabiens zu unterstützen. Keine Antwort.

Entlassungen im Hafen

Als sie der Bürgermeister von Tuttlingen besuchte, hätten ihn die Behörden hingegen hofiert. Natürlich ist sie eine Patriotin, sagt Olga Lapschina noch. Begeistert klingt das nicht, und was es heißt, lässt sie offen. Ob sich die Ukraine nach Moskau orientieren soll? Oder in Richtung Westen? Es scheint ihr einerlei. Sie hat andere Sorgen. Vor einem Jahr hat sie ihre Arbeit als Buchhalterin im Hafen von Ismajil verloren. Nun hält sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser.

Lapschina ist nicht die Einzige. Die Stimmung unter den Hafenarbeitern in der Fußgängerzone von Ismajil ist gedrückt. Schweigend sitzen sie bei Bier und Wodka. Es ist zunächst eine Ehefrau, die über die Oligarchen schimpft. Dann beginnt ein Este zu reden. Seit 2012 sei er in der Gewerkschaft der Hafenarbeiter, erzählt Dima Ozmitel. Mit dem Hafen gehe es bergab. Bis 2011 haben 18 Speditionen den Port beliefert, heute sei es nur noch die Firma des Oligarchen Rinat Achmetow. Gleichzeitig verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen. Vor einem Jahr habe die Hafenleitung auch die Kantine dichtgemacht.

In allen Abteilungen seien Kollegen entlassen worden, berichtet Ozmitel, bis auf den Werksschutz. Er hindere die Ehefrauen am Betreten des Geländes und er entscheide mit, wer eine Prämie erhalte. Außerdem finde der Werksschutz immer einen Weg, einen Streik im Keim zu ersticken, sagt Ozmitel. Als er vor zwei Jahren einen Ausstand organisierte, wurden er und andere Anführer zum Grasmähen abgestellt – eine klare Bestrafung.

Ein Este als ukrainischer Nationalist

Ozmitel ist enttäuscht. „Nicts hat sich geändert durch den Maidan. Nur die Spitze des Staates ist ausgetauscht.“ Plötzlich erzählt der Este, dass er zum „Rechten Sektor“ gehöre und vor Kurzem von einem mehrwöchigen Einsatz von der Front bei Mariupol zurückgekehrt sei. Er, der mit seinen Verwandten estnisch redet, ist ein ukrainischer Nationalist? Gegenüber dem Hafen, am anderen Donauufer, beginnt die EU. Ozmitel könnte nach Estland zurückkehren und Bürger der EU werden.

Nein, nein, Ozmitel schüttelt energisch den Kopf. Seine Heimat ist die Ukraine. Osmitel sagt das mit leuchtendem Gesicht – ein Leuchten, für das seine schweigenden Kollegen offenbar keine Kraft mehr haben.

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