piwik no script img

Die Ukraine als NationEinander kennenlernen

Durch den russischen Angriffskrieg sehen viele Ukrainer ihr Land in einem anderen Licht. Dabei lernen sie Menschen und Orte ganz neu kennen.

Ein aus Mariupol Geflüchteter posiert für ein Foto in Lviv, Ukraine Foto: Evgeniy Maloletka/ap

V on Beginn der russischen Invasion an konnte ich meine Augen nicht mehr von der Ukrainekarte abwenden. Immer wieder habe ich darauf nach Städten gesucht, von denen ich viele erst durch die Frontberichte kennenlernte. Und von denen ich vorher noch nie gehört hatte.

Война и мир – дневник

Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.

Der Krieg hat die Ukrainer dazu gezwungen, sich einander anzunähern und kennenzulernen. Denn früher kannten wir unser großes Land eher schlecht und waren oft in Stereotypen gefangen. Politiktechnologen konnten deshalb häufig über das Thema Sprache und verschiedene historische Helden aus unterschiedlichen Landesteilen spekulieren.

Den oft uneffizienten und ungerechten ukrainischen Staat assoziierten viele in dem industriellen Osten und Süden der Ukraine mit der sinkenden Lebensqualität nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem anschließenden schmerzhaften wirtschaftlichen Transformationsprozess.

Die Menschen, noch geprägt durch die sowjetische Propaganda, misstrauten damals den patriotischen Parolen der Westukrainer.

Bild: privat
Rostyslav Averchuk

ist 33 Jahre alt, Journalist, Dolmetscher sowie Experte für Politik und Wirtschaft. Er lebt und arbeitet in Lwiw.

Ukrainischsprachige Ukrainer fühlten sich manchmal noch unwohl in den großen Städten der Zentral- und Ostukraine, wo sich infolge der gezielten Politik des Russischen Reiches und der Sowjetunion die russische Sprache durchgesetzt hatte.

taz по-русски

Здесь вы можете подписаться на нас в Telegram, это бесплатно.

Solche Unterschiede sind nicht spezifisch für die Ukraine und hätten nicht zu unlösbaren Problemen geführt. Aber unser nördlicher Nachbar und einige skrupellose Politiker fokussierten sich darauf und schürten gegenseitiges Misstrauen und Entfremdung.

Und heute suchen Hunderttausende Menschen aus Charkiw, Sumy und Mykolajiw schon den dritten Monat vor den russischen Bomben Schutz in der Westukraine, die sie früher bestenfalls durch Kurzurlaube dort kannten.

Und die Menschen aus Lwiw und Ternopil ihrerseits sehen, wie die russischsprachigen Ukrainer als erste die Angriffe der russischen Streitkräfte abbekamen und so die ganze Ukraine schützen.

Das alles ist natürlich nicht wie ein Wundertrank, der alle unsere Probleme mit einem Schlag löst. Wir werden noch lange immer wieder mal in Turbulenzen geraten, während wir unser Land verteidigen, die Wunden verheilen lassen und einen effizienteren und gerechteren Staat aufbauen. Wir werden uns hin und wieder noch über Sprachen streiten und uns wegen unterschiedlicher Meinungen über die Zukunft unseres Landes beschimpfen.

Aber ich möchte sehr gerne glauben, dass wir jetzt neue, und endlich auch gemeinsame Symbole und Helden haben. Und vor allem: das Verständnis dafür, dass wir – Einwohner von Iwano-Frankiwsk, Krywyj Rih und Kramatorsk – jetzt ein für allemal über eine gemeinsame Zukunft „abstimmen“, da wir einander in dieser schwierigen Situation unterstützt haben. Und dass jeder von uns, wo auch immer in der Ukraine er gerade ist, sich dort zu Hause fühlt.

Denn wenn der Krieg zu Ende ist, fahre ich auf jeden Fall zum ersten Mal in meinem Leben nach Mariupol, Tschernihiw und Isjum.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey

Das Tagebuch „Krieg und Frieden“ ist ein Projekt der taz Panter Stiftung.

Einen Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA im September als Dokumentation heraus.

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!