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„Die Täter sind gleichzeitig Opfer“

Wie konnte die israelische Gesellschaft so sehr abstumpfen, dass sie einen Genozid durch ihre Armee duldet? Diese Frage bewegt unsere Autorin, die lange in Israel lebte. Mit einer Freundin tauscht sie sich darüber aus. Ein Chatverlauf

Der Gegenwind verfängt nicht in der Mehrheits­gesellschaft: Protest gegen den Krieg in Tel Aviv am 9. August 2025 Foto: Amir Cohen/reuters

Von Marina Klimchuk

Unsere Autorin ist in der Ukraine geboren und in München aufgewachsen. 2012 zog sie zum Studium nach Israel, lernte Hebräisch und nahm später als Jüdin die israelische Staatsbürgerschaft an. Sie arbeitete als Kellnerin, als Kindergärtnerin mit Geflüchteten und als Tourguide in der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem. Zuletzt leitete sie Bildungsreisen in Israel und den palästinensischen Gebieten. Vor fünf Jahren verließ sie das Land, auch weil es sie erschöpfte, sich vor Bekannten und Freun­d:in­nen immer wieder für ihre linken, humanistischen Positionen rechtfertigen zu müssen. In dem hier abgedruckten Chatverlauf versuchen sie und eine israelische Freundin zusammen zu begreifen: Wie kann die israelische Gesellschaft einen Genozid zulassen?

Marina: Es fällt mir schwer zu verstehen, warum du und andere Freundinnen in Israel bleiben. Dieses Land fühlt sich so toxisch und vom Krieg gebeutelt an. Wie kann man dort noch leben?

E: Du hast recht, es ist seltsam. Seltsamer als früher.

M: Inwiefern?

E: Das Land begeht einen Völkermord, und niemand in meinem Umfeld erwähnt ihn auch nur …

M: Die Bevölkerung leugnet immer noch, dass es ein Genozid ist?

E: Niemand spricht darüber. Man schweigt es tot.

M: Weil es ihnen egal ist.

E: Es geht immer nur um die Geiseln.

M: Es macht mir Angst, wozu die Menschheit fähig ist. Ich würde gerne zu Besuch nach Israel kommen, aber ich kann mich einfach nicht überwinden.

E: Das Schweigen fühlt sich an wie eine Art Abwehrmechanismus gegen die Ohnmacht. So erkläre ich mir das zumindest. Die Sache ist die: Normale Leute können sowieso nichts bewirken. Es gibt ja diejenigen, die gegen den Hunger in Gaza demonstrieren, die den Krieg auch für die Menschen in Gaza beenden wollen. Aber diese Demonstrationen bringen nichts, sie sind sinnlos. Auch die riesigen Demonstrationen, die den Krieg beenden und die Geiseln befreien wollen, bringen nichts. Deshalb ist man dazu übergegangen, einfach nicht mehr darüber zu sprechen. Nicht mehr darüber nachzudenken.

M: Klar. Aber wenn wir ehrlich sind: Die Israelis interessiert der Völkermord, den sie begehen, einfach nicht besonders.

E: Es gibt immer diejenigen, die Palästinenser in Gaza hassen oder die verrückten rechtsradikalen Ideologen. Aber die meine ich nicht. Ich spreche über die anderen.

M: Ich weiß. Nicht die Extremisten. Die normalen Leute. Die interessiert es nicht. Einige wenige ja, aber die meisten nicht.

E: Es scheint sie zumindest nicht in ihrem alltäglichen Leben zu beschäftigen. Ich bin mir unsicher. Vielleicht wirkt es nur so, weil sie sich selbst davor beschützen wollen, sich schlecht zu fühlen. Das sind einfache Leute. Die meisten haben kein anderes Land. Sie müssen einfach mit der aktuellen Situation hier klarkommen, wie auch immer sie aussieht.

M: Welche Rolle spielt es, ob sie sich selbst vor Schuldgefühlen bewahren wollen? Das sind ihre Söhne, ihre Brüder und Ehemänner, die einen Völkermord in Gaza begehen.

E: Vielleicht könnte ich das Thema mit einem befreundeten Pärchen mal ansprechen. Aber ich glaube, sie würden sich als Verräter fühlen, offen darüber zu reden. In meinem Umfeld hasst man die Menschen in Gaza nicht, das wäre zu vereinfacht gesprochen. Ich habe auch Verwandte in Aschkelon (Stadt an der Küste nahe dem Gaza­strei­fen; d. Red.). Der Sohn der Familie kämpft in Gaza.

M: Natürlich gibt es viele gute Leute, das ist doch überall so. Aber es gibt auch eine Kollektivschuld. Was sagen deine Verwandten denn zu all dem?

E: Sie sind mental absolut am Boden. Ich glaube beide, sie und ihr Sohn, sind verrückt geworden und leiden an Realitätsverlust. Aber du hast recht, all das ist nicht über Nacht passiert. Ich meine: Es ist einfach eine verrückte Realität, in einer Stadt zu leben, wo sie jeden Tag hören, wie man über Gaza die Bomben abwirft. Sie haben erzählt, ihr Sohn glaubt jetzt: Der Krieg in Gaza ist das echte Leben und das Leben im Frieden ist eine Illusion.

M: Ich verstehe nicht, was du damit meinst.

E: Von mehreren Seiten habe ich den Eindruck, unter den israelischen Soldaten und Reservisten herrscht ein überwältigendes Gefühl von Kameradschaft. Und genau für dieses Gefühl kehren sie immer wieder in den Krieg zurück. Wenn ich meine Verwandten sagen höre, ihr Sohn glaube, der Krieg sei das echte Leben, obwohl er eine Frau und Kinder zu Hause hat, glaube ich, das ist auch mit diesem Solidaritätsgefühl unter Kameraden zu erklären. Psychologisch steckt etwas Schreckliches und sehr Komplexes dahinter. Und es fühlt sich unmöglich an, zwischen diesen zwei Realitäten zu existieren, zwischen friedlichem Alltagsleben und der Kriegskameradschaft und dem Adrenalin. Soldaten verlieren deshalb auch ihren Realitätsbezug, wenn sie versuchen, sich zwischen diesen zwei Parallelwelten zu bewegen.

M: Das ist todtraurig. Die Täter sind gleichzeitig die Opfer.

E: Wie gesagt, ich glaube, meine Verwandten haben allmählich den Verstand verloren, auch wenn sie nach außen erst einmal ganz normal wirken. Mit den Jahren haben sie seltsame Bewältigungsstrategien entwickelt. Sie glauben jetzt sogar an Gott.

M: Haha.

E: Ihre Enkelkinder haben so lange mit dem ständigen Raketenalarm gelebt. Wer würde da nicht verrückt werden? Ich weiß, du fühlst das wahrscheinlich anders. Aber ich habe Mitgefühl mit ihnen. Sie sind aus der ehemaligen Sowjetunion hierhergezogen. Sie haben viel durchgemacht und sie haben keinen anderen Ort zum Leben. Sie versuchen einfach, in diesem Land als Familie zusammenzubleiben. Und plötzlich müssen sie irgendwie auf diesen Krieg reagieren, der um sie herum geschieht. Wie soll man damit klarkommen?

Der Sohn von Verwandten glaubt jetzt: Der Krieg in Gaza ist das echte Leben

M: Ich habe auch Mitgefühl. Aber du kannst ein schwieriges Leben haben und gleichzeitig Palästinensern ihre Menschlichkeit absprechen. Das geht beides zusammen.

E: Das stimmt.

M: All das ist einfach eine Riesentragödie.

E: Und sie geht immer weiter.

M: Aber der Völkermord wäre nicht möglich gewesen, wenn die israelische Gesellschaft nicht schon lange vor dem 7. Oktober dazu bereit gewesen wäre.

E: Du hast recht.

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