Die Stadt und die Fremden: Alle sind gleich, aber nur unter sich?
■ Segregation statt Integration? Plädoyer gegen einen angedachten Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik Von Uwe Rada
Seitdem der Spiegel Ende Oktober im Berliner Bezirk Neukölln die hauptstädtische Bronx gesucht und gefunden hat, reißen Medienberichte über Berliner „Slums“ und „Ghettos“ nicht mehr ab. Mal ist es das soziale Armenhaus Kreuzberg, mal sind es die „umgekippten“ Trabantensiedlungen der sechziger und siebziger Jahre, in denen das Bild von den Schattenseiten der Möchtegernmetropole gezeichnet wird. Ausländer, vor allem aber ausländische Jugendliche kommen in diesem Bild nicht mehr als Farbtupfer vor, sondern als dunkle Gestalten, vor denen die deutsche Bevölkerung zunehmend das Weite sucht.
Gleichwohl verweisen Skandalisierungen wie im Spiegel, aber auch die Aufgeregtheit, mit der in der Bundeshauptstadt autoritäre Konzepte wie das New Yorker Modell der „Null Toleranz“ diskutiert werden, auf eine tatsächliche Grundstimmung der Verunsicherung, Angst und Bedrohung. Das betrifft freilich nicht nur die sozial Benachteiligten und Migranten der Stadt, deren Zahl zwar immer größer, deren politischer Einfluß aber immer kleiner wird. Es betrifft zunehmend auch jene Stadtbewohner, die lange Zeit nach der multikulturellen Gesellschaft gerufen haben und nun, da es im Multikulti-Milieu ungemütlich geworden ist, lieber in ruhigere Gegenden oder gleich ins Berliner Umland ziehen. Die vielgerühmte „Berliner Mischung“ ist damit unter Druck geraten, es herrscht der Normalzustand der europäischen Ballungszentren. Je größer die innerstädtischen Wanderungen, je größer die Stadtflucht, je größer der Zuzug von Migranten und anderen Neuberlinern, desto größer ist auch die soziale und ethnische Segregation im städtischen Raum.
Über die Stadt und die Fremden ist in diesem Jahrhundert viel Kluges geschrieben, aber auch viel Dummes gesagt worden. Nun, am Ausgang des Jahrhunderts, scheint die Wirklichkeit ihrer Beschreibung davonzujagen. Globalisierung und Deregulierung haben nicht nur die vertikale Gliederung der Gesellschaft in „oben“ und „unten“ durch eine horizontale in „drinnen“ oder „draußen“ überlagert, sondern auch zahlreiche Menschen von ihrer alten Heimat in eine neue aufbrechen lassen. Es sind die großen Städte, in denen sich dieser wirtschaftliche und soziale, aber auch demografische Umbruch von der Industrie- zur globalen Dienstleistungsgesellschaft focussiert.
Und es sind die großen Städte, in denen dieser Wandel die Integration der Zuwanderer ins städtische Gefüge vor immer größere Probleme stellt. Das gilt nicht nur für die bundesdeutsche Kapitale, in der manche Poltiker immer noch nach bürgerlichen „Urbaniten“ Ausschau halten, um die zunehmende Migrantion nicht wahrnehmen zu müssen. Es betrifft auch die wachsende Ghettoisierung in den französischen Vorstädten oder die ethnische Homogenisierung in Städten wie London oder Amsterdam, mit der nicht nur die kommunalen Entscheider, sondern auch die nichtstaatlichen lokalen Akteure konfrontiert sind.
Wenn von morgen bis Sonntag europäische Experten und Akteure die neuen Herausforderungen der Migration für städtische Planung und Politik diskutieren, ist auch eine Debatte zu erwarten, die insbesondere unter bundesdeutschen Stadtplanern zu erheblichen Kontroversen führen wird. Es geht um die — in anderen Ländern wie Großbritannien oder den USA bereits aufgegebenen — Leitbilder der sozialen und ethnischen Mischung und Integration und — damit zusammenhängend — die Suche nach neuen Paradigmen wie Selbsthilfe, Subistenzökonomie und einem positiven Verständnis von Segregation. Zugespitzt lautet die Alternative: Festhalten am Ideal unteilbarer Bürgerrechte und der Chancengleichheit, auch um den Preis zunehmender Deklassierung oder aber pragmatischer Umgang mit einer deklassierten Wirklichkeit um den Preis der Aufgabe des Ideals?
Daß nun auch von bundesdeutschen Stadtsoziologen das Leitbild der Integration und Mischung als möglicherweise gescheitert betrachtet und die Frage aufgeworfen wird, ob nicht in segregierten, ethnisch homogenen Vierteln mit ihren sozialen und kulturellen Netzen und ihrer informellen Ökonomie Einwanderer ihr Überleben weitaus besser organisieren können, ist nicht zuletzt das Ergebnis der Diskussion um das wohl bekannteste Integrations- und Mischungsmodells: der Kreuzberger behutsamen Stadterneuerung. Zwanzig Jahre, nachdem man in Berlin mit der öffentlichen Förderung der Altbausanierung und ersten Modellen der Bürgerbeteiligung — aber auch administrativen Manahmen wie Zuzugssperren — begonnen hatte, ist die soziale Lage in Kreuzberg heute explosiver denn je. Jeder fünfte ist arbeitslos, die Jugendarbeitslosigkeit der Immigranten liegt bei über 50 Prozent und dennoch kommen immer mehr Zuwanderer in den Stadtteil. Bis zum Jahr 2010, so hat es der Berliner Senat errechnet, wird die Kreuzberger Ausländerquote von derzeit 33 auf über 40 Prozent steigen. Ist das „Ghetto“ also bereits Realität, die Stadteneuerung, der es auch um die Verbesserung der Lebensverhältnisse aller ging, gescheitert? Sind Mischung und Integration Begriffe aus Zeiten, in denen man sich solcherlei Luxus noch leisten konnte?
Wenn also ein dynamisches Bild von Stadt an die Stelle von letztlich doch nicht realisierbaren egalisierenden Leitbildern tritt, können die Anforderungen an eine neue Planungskultur genannt werden“, deutet Joachim Brech, einer der Organisatoren der Konferenz, jenen Paradigmenwechsel im Umgang der Stadt mit den Fremden an, an dessen Ende auch in deutschen Städten ethnisch homogene Quartiere wie „Chinatowns“ und „Little Italys“ stehen könnten. Daß der pragmatische Umgang mit einer Realität sozialer und räumlicher Segregation allerdings ebenso problematisch ist, wie es das Festhalten am Ideal der Integration sein mag, darf hingegen nicht vergessen werden. Wie schnell die Vorstellung einer räumlich konzentrierten ethnischen Ökonomie zusammenbrechen kann, zeigt sich nicht zuletzt im Verhalten der Immigranten der zweiten und dritten Generation. Aufgewachsen mit den Kindern der Mehrheitsgesellschaft haben sie andere Ansprüche an soziale Gleichberechtigung entwickelt als ihre Eltern. Die zunehmende Gewalt und Aggresion in den Einwanderervierteln ist deshalb auch ein Hinweis darauf, daß sich diese Jugendlichen nicht damit abfinden wollen, dauerhaft vom ersten Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu sein und ihr Geld womöglich für immer in einer Imbißbude verdienen zu müssen. Wird die Selbstbeschränkung auf die Überlebensökonomie von einem großen Teil der Immigranten aber nicht akzeptiert, kann aus einem „Ghetto“ im positiven Sinne schnell ein „Slum“ im negativen Sinne werden.
Ein weiterer Grund, weswegen die Aufgabe des Leitbildes der Integration ein Spiel mit dem Feuer wäre, liegt darin, daß eine positive Bezugnahme auf homogene Migrantenquartiere schnell als Ethnisierung der sozialen Polarisierung mißverstanden werden kann. Wachsende Aggression und Perspektivlosigkeit sind aber nicht in erster Linie ein ethnisches Problem, sondern Ergebnis eines gesellschaftlichen Ausschlusses, der deutsche Jugendliche, Alleinerziehende, Alte, Arbeitslose, Arme so betrifft wie ausländische.
Wenn das Leitbild der Integration und Mischung tatsächlich auf die Waagschale gelegt werden soll, muß deshalb — neben allem Pragmatismus — dringend auch Motivforschung betrieben werden. Ist die Segregation tatsächlich im Interesse der Migranten, und zwar aller Generationen? Oder drückt sich in ihr nicht auch jenes Bedürfnis der „Erfolgreichen“ aus, mit dem Elend der „Ausgeschlossenen“, zu denen die Immigranten größtenteils gehören, nicht länger konfrontiert zu sein?
Editorial
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