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Die Spur der Dosen

Mona Könen macht mit alten DDR-Fischkonserven Kunst. Entdeckt hat sie die haufenweise in einem Brandenburger Garten – und verwundert festgestellt, dass die DDR viel vielfältiger war als vermutet

Diese DDR-Fischdosen kamen in einem Brandenburger Garten zu Tage Foto: Mona Könen

Aus Perwenitz Katja Kollmann

Mona Könen muss schauen, wo sie mit ihren Gummistiefeln hintritt im Dickicht vor ihrer Datsche. Das Gras ist kniehoch. Geht man aufrecht, taucht man mit dem Kopf ein ins dichte Blätterdach, das sich zu einer Lichtung hin öffnet. Der Blick geht auf ein Weizenfeld und den weiten Brandenburger Himmel.

Das Grundstück in Perwenitz bei Nauen hatte Mona Könens Freund vor etwa 20 Jahren gekauft. Zwei abgerockte Hütten mit Kaninchen- und Hühnerstall gab’s mit dazu. Und einen Haufen Müll, den der Vorbesitzer auf dem Grundstück angehäuft hatte.

Mona Könen hat das Gelände durchforstet und den herumliegenden Müll inspiziert. Dabei versuchte sie sich den Menschen vorzustellen, der ihn einst weggeworfen hatte. Was war das wohl für ein Mensch, der hier jahrzehntelang gelebt hat?

Neben dem Hühnerstall hat sie einen Berg Flaschenkorken gefunden. Und dann die erste Fischdose. Immer öfter ist sie auf diese Fischdosen gestoßen, und sie begann sie zu sammeln, denn die Aufdrucke und Motive auf den Deckeln der leer gegessenen Dosen hatten sich erstaunlich gut erhalten. Und immer wieder neue Motive tauchten in dem Müll auf.

Mona Könen ist bildende Künstlerin. In Kiel aufgewachsen, kam sie in den 1970er Jahren zum Kunststudium nach Westberlin. Regelmäßig war sie auch in Ostberlin, und um dort dann ihr Zwangsumtausch-Geld loszuwerden, deckte sie sich mit sämtlichen Haushaltswaren ein, die sie finden konnte. Von Plaste-Schüsseln („halten ewig!“) bis zu Nägeln (Sie sagt, dass sie heute noch einen Vorrat hat) war in ihrem Haushalt eigentlich alles aus der DDR.

Die Perwenitzer Fischdosen aber waren für sie eine neue Facette des verschwundenen Landes. Mit dem Gefühl, dass es im Garten der Datsche noch mehr Dosen geben musste, hat sie an einer Stelle zu graben angefangen und ist auf Hunderte von leeren Fischdosen gestoßen. Könen hat alle Dosen geborgen, Schicht für Schicht. Immer tiefer ist das Loch geworden, Könen führte dann auch FreundInnen, Bekannte und alle, die es interessierte, dahin. Als „Exkursion zur Ausgrabungsstätte“ hat sie das gelabelt.

Schnell stand auch ihr Entschluss fest: Sie wollte die Dosen behalten. Alle. Denn sie war fasziniert von der Deckelgestaltung. Könen trennte alle Deckel vom „Rumpf“ und ordnete sie nach Motiven. Insgesamt 165 verschiedene Motive hat sie gefunden. Den Inhalt der ältesten Fischdosen muss der Vorbesitzer des Gartens Anfang der 1970er verzehrt haben, das eingestanzte Verfallsdatum der jüngsten Dosen lag im Jahr 1990.

Heute lagern die Fischdosendeckel in einem Setzkasten im Atelier der Künstlerin in Berlin-Schöneberg. Es sind nicht mehr viele. Die meisten sind längst Teil von Könens Bilderzyklus „Fische aus der DDR“.

Jeden Abend setzte er sich neben den Hühner­stall, erzählt die Nach­barin, „machte sich eine Pulle auf und dann die Fischdose“

Einige dieser Fischdosen-Objekte mit den Deckeln in einer Gipsfassung hat sie in einem kleinen Karton in die Datsche mitgebracht. Auf einem ist auf der runden Aluminiumscheibe „starke brise“ zu lesen, und „Makrelenfilet in Paprikatunke“, „Deutsche Vollkonserve“ von der „VEB Fischverarbeitung Barth“. Und „EVP 1.35 M“ – gekostet hat die Dose damals als Einzelhandelsverkaufspreis also 1,35 DDR-Mark. Ein freundliches Blau dominiert den Deckel, im Vordergrund drängen sich eine große weiße und mehrere kleine rote und grüne Wellen, begleitet von winzigen Fischerbooten in denselben Farben.

Auf dem nächsten Fischdosenobjekt ist das traurige Auge eines einsamen Fisches zu sehen. Er ist der Blickfang der Dose mit dem Titel „Duett“. Wo ist der zweite Fisch hin, frage ich mich, nehme das nächste Objekt aus dem Karton und lese – in roten Großbuchstaben – „Partner“. Wäre auf dieser Dose ein Fisch abgebildet, dann könnten sich diese beiden Dosenmotive ideal ergänzen, denke ich. Aber da es ist kein Fisch zu sehen, auch kein Meer, nur noch ein weites weißes Feld mit einer einsamen roten Tomate am unteren Rand. Fischdosendesign im Endstadium der DDR. Verfallsdatum der „Partner“-Konserve: 4. 12. 1989.

Mona Könen hat sich gewundert: „Wieso hat man in der DDR so viel Energie in das Produktdesign gesteckt?“ Und viele Menschen dazu befragt: „Ich habe meine Fischdosensammlung Bekannten und FreundInnen, die in der DDR aufgewachsen sind, gezeigt, weil mich interessiert hat, an welche Motive sie sich erinnern.“

Dabei kam heraus, das die Motive von zwei Konservendosen alle kannten: eine rote Dose mit zwei misstrauisch dreinschauenden Fischen, „Makrelenfilet in Tomatentunke“ vom VEB Fischwerk Sassnitz, und eine dunkelrot gehaltene Dose mit einem Dreimaster in Richtung Ost, auch vom Fischwerk Sassnitz. Auch „Makrelenfilet in Tomatentunke“.

… nun Kunst: zwei Objekte aus der Serie „Fische aus der DDR“ mit 165 verschiedenen Designs Foto: Mona Könen

„Insgesamt“, sagt Mona Könen, „gab es aber weniger als zehn Motive, die wiedererkannt wurden.“ Wie kam ein Mensch in der absoluten Provinz, hier in Perwenitz, an die Fischdosen, hat sie sich gefragt – und bei den Alteingesessenen in der Nachbarschaft erkundigt. Eine Nachbarin war sich sicher, dass es im lokalen Delikat-Laden immer mal wieder auch seltene Konserven –die hier viel mehr als im normalen Handel kosteten – gegeben hat. Andere mutmaßten, dass sich ihr Nachbar die Dosen durch Beziehungen in die nahegelegene sowjetische Kaserne organisiert hatte.

Möglich wäre außerdem, dass der früher auf Könens Datsche ansässige Fischdosenliebhaber jemanden gekannt hatte, der auf der Leipziger Messe beschäftigt war und über einen der begehrten Ausstellerausweise verfügte. In einem Beitrag für die Senioren-Fakultät der Universität Leipzig erinnert sich der Zeitzeuge Klaus-Dieter Schmidt jedenfalls. „In den Einrichtungen des Ausstellerservices konnte man mit einem Ausstellerausweis mit der einheimischen DDR-Mark alles erwerben, was es sonst in der DDR nicht gab, und was es aber doch gab.“ Schmidt zählt auch DDR-Konserven aller Art auf, die auf der Messe zu sehen waren, die es aber nie bis in einen Delikat-Laden geschafft haben.

Eine weitere mögliche Bezugsquelle könnte der Werksverkauf gewesen sein. Vielleicht hatte der Mann im Perwenitzer Garten gute Verbindungen nach Rostock oder Rügen. So erinnert sich Matthias Lange vom Fischerei- und Hafenmuseum Sassnitz in einer Mail an die taz, dass das dortige Fischkombinat regelmäßig für wenig Geld Konserven mit Unter- beziehungsweise Übergewicht unter die Leute gebracht hat.

Die alten DDR-Fischdosen mit teils prosaischen Produktnamen sind … Foto: Mona Könen

Bleibt die Frage, warum die volkseigenen Fischkombinate Konserven produzierten, die gar nicht in den normalen Verkauf gehen sollten, für die aber so viele unterschiedlichen Deckelmotive entwickelt wurden?

Im „großen Lexikon der DDR-Werbung“ ist zu erfahren, dass die Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) Hochseefischerei – der Zusammenschluss der volkseigenen Betriebe Fischkombinate Rostock und Sassnitz – seit 1960 einen zentralen Werbedienst hatte mit den Abteilungen Bedarfsforschung (Absatzwerbung), Produktionspropaganda (Messen) und einer mobilen „Beratungsstelle für neuzeitliche Fischzubereitung“. Werbedienstleiter Rudolph Kroboth wurde in den 1960ern als Fischkoch dabei zum nationalen TV-Star. Er hat mit seinem Team regelmäßig internationale Politdelegationen verköstigt und avancierte zum inoffiziellen Leibkoch von Walter Ulbricht. Der liebte Fisch und hat verkündet: „Jedes Kilo Fisch spart Fleisch, das wir exportieren können.“

Im Werbedienst der VVB Hochseefischerei sowie beim VEB Fischverarbeitung Barth saßen durchaus kreative WerberInnen, die ziemlich viel Gestaltungsfreiheit hatten. Während Text, Größe der Schrift und Abstände vorgegeben wurden, hatten die GrafikerInnen bei der Motivauswahl großen Spielraum, erfährt die taz von einem Mitarbeiter, der in den 1980ern Angestellter beim Werbedienst der VVB Hochseefischerei war.

Foto: Mona Könen

Hintergründig witzige bis sogar ins Subversive gehende Motive wie „Duett“ und „Partner“, bei denen die Bezeichnung eigentlich Gemeinschaft meint, die Bilder aber Einsamkeit und sogar Abwesenheit ausdrücken, entsprachen kaum der offiziellen DDR-Ideologie. Aber die Motive wurden von der Leitungsebene durchgewunken. Weil sie dort genau wussten, dass diese Dosen nicht für den Handel bestimmt waren?

Aber sie kamen trotzdem bis in den Perwenitzer Garten. Wie genau, lässt sich nicht mehr sagen. Längst ist die Ausgrabungsstätte vom Dickicht überwuchert. Und wo der Fischfan über viele Jahre seine Heringe und Makrelen in Soße verzehrt hat, das hat ein alter Nachbar Mona Könen erzählt: „Jeden Abend setzte er sich neben den Hühnerstall, machte sich eine Pulle auf und dann die Fischdose. Er isst also und trinkt und schmeißt dann die leere Dose über den Rücken in den Garten.“

Gezielt greift sie nach dem Fischdosenobjekt „Duett“ und lächelt: Es ist ihr Lieblingsmotiv. Der mit wenigen Strichen skizzierte Fisch, der seine Vereinsamung Richtung Betrachter kommuniziert und daneben das Wort „Duett“. Als hätte es sich verirrt und wäre auf dem falschen Deckel gelandet.

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