: Die Revolution frisst ihre Rentner
Angesichts von Inflation und politischem Stillstand wandert die junge Generation ins Ausland ab. Zurück bleiben die Alten. Der marode Staat vermag ihnen kaum zu helfen

Aus Cárdenas Knut Henkel (Text und Fotos)
Alberto Casanoba Gutiérrez sitzt in seinem Rollstuhl und lächelt erfreut. Er hat schon auf Maribel Domínguez gewartet, ein- bis zweimal pro Woche kommt die 59-jährige Krankenschwester in seiner Straße in Cárdenas vorbei. Die Hafenstadt im Osten der Insel liegt nur ein paar Kilometer vom Tourismus-Hotspot Varadero entfernt und gehört zu den abgetakelten Städten der Insel: marode Fassaden, Wasser, das aufgrund verstopfter oder zerstörter Abwassersysteme in den Straßen steht, und eingestürzte Dächer.
Auch vor dem alten Holzhaus von Alberto Casanova Gutiérrez steht das Wasser in der Betonrinne vor der Eingangstür. In den Türrahmen hat der 73-Jährige seinen Rollstuhl manövriert, um die Straße hinunterschauen zu können. Dem Diabetiker fehlt ein Bein. „2019 haben sie es mir amputiert. Erst den Fuß, dann das ganze Bein, weil es nicht heilte“, erklärt der alte Mann, der weitgehend auf sich selbst gestellt ist. „Mein Sohn lebt zwar in Cárdenas, aber er führt sein eigenes Leben und kommt selten vorbei. Ohne die Hilfe des CCRD wäre ich aufgeschmissen“, erklärt der dürre Mann.
Dann gibt er den Weg ins Innere des kleinen Holzhauses für Krankenschwester Domínguez frei, die heute gemeinsam mit Sozialarbeiterin Yamilé Casal unterwegs ist. Ein Raum, dahinter befinden sich eine kleine Küche und das Bad. Links von der Eingangstür steht das Bett, an dessen Kopfende sich ein paar Bücher stapeln. Unter dem Laken lugt eine gelbe Schaumstoffmatratze hervor. Ein weiterer Bücherstapel ist neben dem einzigen Stuhl im hinteren Teil des Hauses zu sehen.
Auf dem Tisch daneben steht ein dreiteiliger Henkelmann aus Edelstahl. In dem wird das Essen aus der Küche des Centro Cristiano de Reflexión y Diálogo (CCRD) vorbeigebracht. Seit nunmehr acht Jahren geht das so. „Fünf, manchmal sechs Tage pro Woche bringen Pepito oder Leonardo das Essen per Fahrrad vorbei, ein bis zweimal pro Woche sind Maribel und Yamilé hier“, erzählt Alberto Gutiérrez. Die beiden Frauen kümmern sich um den Rentner, schneiden ihm die Haare, sorgen dafür, dass der weißmelierte Bart ums Kinn herum in Form bleibt. Sie bringen frische Wäsche und baden ihn regelmäßig.
Alberto Casanoba Gutiérrez hat Glück gehabt. Eine Nachbarin hat das Centro 2016 auf den alleinstehenden Mann aufmerksam gemacht. „Sie hat dafür gesorgt, dass mein Fall geprüft wurde. Die Leute vom CCRD sind vorbeigekommen, haben meine Lebensbedingungen unter die Lupe genommen, gecheckt, wie viel Rente ich bekomme“, erinnert sich Gutiérrez. Eine Woche später sei Maribel dann wieder aufgetaucht und habe ihm mitgeteilt, dass sein Name nun auf ihrer Liste stehe, erklärt der ehemalige Koch, der aufgrund des Diabetes vorzeitig in den Ruhestand geschickt wurde. Wie viele andere Rentner:innen erhält er die Mindestrente von 1.528 kubanischen Pesos monatlich. Umgerechnet sind das noch nicht einmal 5 US-Dollar.
„Manchmal sind sie an einem Tag weg, für Medikamente, etwas Essen. Das geht schneller, als ich gucken kann“, sagt Alberto Gutiérrez mit einem bitteren kleinen Lachen. „Mindestens 20.000 kubanische Pesos bräuchte ich im Monat, um einigermaßen über die Runden zu kommen“, schätzt er. An Kleidung oder Bücher denke er da noch gar nicht – nur an die Grundversorgung. Um die und vieles andere kümmert sich das CCRD, das 120 Senior:innen wie Alberto Casanoba Gutiérrez in Cárdenas betreut.
„60 waren es 2016. Dann wurde die Zahl bis 2019 aufgestockt, da das CCRD mehr Mittel im Ausland eingeworben hatte“, erinnert sich Maribel Domínguez. Die Organisation finanziert sich vor allem über Spenden evangelischer Kirchen in Deutschland, Kanada, den USA und Skandinavien. Domínguez arbeitet seit 18 Jahren für das Zentrum in Cárdenas und ist dort für die Betreuung der Rentner:innen verantwortlich. Die Zahl der Bedürftigen steige ständig. „Die Zahl der Senior:innen, die ohne Familie, auf sich allein gestellt in Cárdenas leben, ist mit der massiven Auswanderung seit 2021 stark gestiegen. Die Alten fallen in Kuba immer öfter durch das soziale Netz“, sagt sie. Je nach Quelle haben von November 2021 bis Anfang 2025 zwischen 1,6 Millionen und 2 Millionen Menschen Kuba verlassen – das Gros jung und gut ausgebildet.
Zwar kümmere sich der Staat mit einem Altenheim und zwei Tagesbetreuungen um die Senior:innen in Cárdenas, aber die Sozialarbeiter:innen, die prekäre Fälle mit den Hausärzten betreuen sollen, seien überfordert, meint Domínguez. „Es fehlen überall Ressourcen. Im Krankenhaus von Cárdenas haben wir nicht mal Spritzen, die müssen die Patienten genauso wie die Medikamente mitbringen“, sagt die Frau mit den hellblonden hochgesteckten Haaren und zuckt entnervt mit den Schultern.
Rente 1,7 Millionen Kubaner:innen sind aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden und erhalten eine Rente. 39 Prozent der Rentenempfänger:innen müssen sich mit dem Einstiegssatz von 1.528 Peso cubano begnügen, sagt Virginia Marlene García Reyes, Generaldirektorin für soziale Sicherheit im Arbeitsministerium Kubas. Aufgrund der hohen Inflation der letzten Jahre sei die Rente zusammengeschmolzen, ähnlich wie die Löhne in den staatlichen Betrieben, so Gracía Reyes gegenüber dem staatlichen Informationsportal „CubaDebate“.
Reform Eine Rentenanpassung würde helfen, sagen Expertinnen wie Mayra Espina, Soziologin aus Havanna. Ihrer Ansicht nach müsste das Rentenniveau bei 32.000 Peso cubano liegen, um in Kuba derzeit in Würde alt werden zu können. Schon eine Stiege Eier kostet 2.100 Peso.
Inflation Gleichwohl würde eine Rentenaufstockung auf das mehr als das 20-Fache des derzeitigen Einstiegssatzes laut Finanzexperten die Inflation ankurbeln. Ökonomen wie Omar Everleny Pérez plädieren deshalb lieber für grundlegende Reformen, um der grassierenden Abwanderung, den fehlenden Perspektiven für die Jugend und der Überalterung der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen.
Geburtenmangel Nur 71.000 Geburten hat es im Jahr 2024 in Kuba gegeben, das ist ein historischer Tiefstand. Immer weniger Kindern stehen immer mehr alte Menschen gegenüber. 24,4 Prozent aller Kubaner:innen sind derzeit offiziellen Zahlen zufolge älter als 60 Jahre. Diese Quote wird bis 2030 laut den Demografen auf 30 Prozent steigen, so dass Kuba zur ältesten Gesellschaft in der Karibik noch vor Barbados werden könnte.
Die Senior:innen stehen inzwischen ganz unten in der gesellschaftlichen Hierarchie auf der Insel. Viele von ihnen verkaufen auf der Straße die Tageszeitung Granma, das Sprachrohr der kommunistischen Partei, oder das Gewerkschaftsblatt Trabajadores. Auch Schlangestehen für Ausweisdokumente, vor den Lebensmittelläden oder für ein Ticket für den Überlandbus wird oftmals von den Senior:innen übernommen, die sich nützlich machen, wo immer sie können – aber das wird andererseits auch von ihnen erwartet.
Auf Kuba ist es üblich, dass die Älteren im Familienverband mit den Jüngeren leben, dass die Senioren mitversorgt werden, aber dafür auch mithelfen. Doch diese Strukturen bröckeln. Jubilados, so heißen die Rentner:innen in Kuba, die kleine Verkaufsstände vor der eigenen Haustür oder in einer der zwei, drei Fußgängerzonen von Cárdenas betreiben. Das ist nicht nur hier so, sondern inselweit. „Viele haben sich ihren Ruhestand anders vorgestellt“, sagt Rita García, die Direktorin des CCRD.
Das 1991 von ihrem Vater Raimundo García Franco initiierte Zentrum ist ein immer wichtiger werdender sozialer Akteur in der heruntergekommenen Hafenstadt. Am Ortseingang gelegen, bietet das weitläufige Zentrum psychologische und medizinische Hilfe an, aber auch Beratung für Unternehmer:innen und Gewaltopfer. Hinzu kommen eine Bibliothek, Räume für Veranstaltungen. Gleich daneben befindet sich die professionell ausgestattete Küche von José Antonio Mesa und Joveni Romero.
Die beiden Köche des CCRD, die früher für Touristen in Varadero gekocht haben, sind seit rund drei Jahren für die 120 Mittagessen in den Henkelmännern verantwortlich. Die werden morgens als Erstes gekocht und von Krankenschwester Maribel Domínguez und Yamilé Casal vorgekostet, bevor die Mahlzeiten in den dreistöckigen Edelstahlbehältern ab neun Uhr morgens ausgefahren werden. Das macht José „Pepito“ Perdomo gemeinsam mit einem Kollegen.
„Für viele ist unser Besuch und die kleine, damit verbundene Unterhaltung ein Highlight des Tages“, erklärt der 67-Jährige. Seit dem Rentenantritt vor zwei Jahren fährt er die Henkelmänner aus, aber hin und wieder ist er auch als Nachtwächter im CCRD aktiv. „Ich verdiene mir etwas dazu, denn auch meine Rente ist viel zu knapp“, erklärt der rüstige Mann mit der auffälligen schwarz-roten Baseball-Kappe und den Dollar-Zeichen darauf.
Um den US-Dollar, den Euro und zwei, drei weitere harte Währungen dreht sich fast alles in Kuba. Der Wechselkurs pro Euro auf dem kubanischen Schwarzmarkt liegt bei 390 Peso, 370 gibt es pro US-Dollar. Längst hat die rasante Inflation die Währungsreform von 2020, die mit einem Kurs von einem US-Dollar pro 24 Pesos startete, zunichte emacht. Statt an einer starken Nationalwährung orientiert sich in Kuba mittlerweile alles am Kurs von Euro und US-Dollar.
Die Währung des amerikanischen Klassenfeindes darf seit ein paar Monaten auch wieder legal auf der Insel zirkulieren – ein Indiz für die Tragweite des währungspolitischen Desasters, so Pavel Vidal, kubanischer Ökonom mit Lehrauftrag im kolumbianischen Cali.
Unter besagtem Desaster haben die Rentner:innen der Revolution besonders heftig zu leiden, denn ihre Rente ist wie Butter in der Sonne geschmolzen. Dafür macht Vidal die halbherzige Reformagenda der Regierung in Havanna verantwortlich. „Ideologische Scheuklappen“ attestiert er den Verantwortlichen in Havanna. „In Kuba wird immer nur so viel ökonomischer Freiraum für den Privatsektor gewährt wie unbedingt notwendig“, kritisiert er. Ein offenes Bekenntnis, gar ein fundiertes Konzept, für einen Mix aus Privat-, Genossenschafts- und sozialistischen Betrieben gibt es nicht.

Hinzu kommen die US-Sanktionen, die seit 2017 ein historisch noch nie da gewesenes Niveau erreicht haben. Das sorgt spätestens seit 2019 für eine sich kontinuierlich verschärfende Rezension, sagen Analysten wie Vidal. Der holt alle vier, fünf Monate seine Eltern für zwei, drei Monate nach Cali, kümmert sich aber auch um Essen und Medikamente, wenn sie in Havanna sind. „Das geht mittlerweile per Lieferservice über das Internet und klappt“, so der Finanzexperte. Das kann er sich als Professor an der katholischen Javeriana-Universität leisten. Das Gros der Rentner:innen auf der Insel kann davon nur träumen.
Alberto Casanova Gutiérrez, auch wenn er auf die christliche Nächstenliebe der CCRD angewiesen ist, ist sogar noch relativ gut dran. Doch auch er steht vor dem Problem, dass sein kleines Haus reparaturbedürftig ist. Über seinem Bett ist der Himmel zu sehen, mehrere Holzlatten fehlen, einige sind durchgerottet, und Hilfe ist nicht in Sicht, um das Dach zumindest notdürftig zu reparieren. „Seit Jahren warte ich auf Hilfe aus dem staatlichen Sozialsystem. Doch es heißt immer nur, dass es weder Material noch Ressourcen gibt“, sagt er und schüttelt verzweifelt den Kopf.
18 Prozent der 1,7 Millionen Pensionär:innen in Kuba leben offiziellen Statistiken zufolge in maroden, reparaturbedürftigen Wohnungen oder Häusern. „In Cárdenas ist die Situation besonders brisant, weil seit Jahrzehnten in den Erhalt der Infrastruktur und der Wohnung wenig investiert wurde“, so Krankenschwester Domínguez. „Wir leben in einer zerfallenden Stadt.“
Esther Gamara, eine 62-jährge Rentnerin, die an einer Nervenkrankheit leidet und nur ein paar Meter von Alberto Casanova Gutiérrez’ Block entfernt wohnt, gehört dazu. Sie steht heute auf der Besuchsliste des helfenden Duos und hat das kaputte Fenster in ihrer Wohnung notdürftig vom Nachbarn mit einem Müllsack aus Plastik flicken lassen. Kein echtes Problem für die rüstige Frau, die ihre Rente zu großen Teilen für Medikamente aufwendet. „Letztlich überleben wir hier: ein normales Leben ist kaum mehr möglich“, sagt Gamara im gelben Sommerkleid und wirkt trotz allem optimistisch. „Der CCRD ist meine Familie“, sagt sie und greift nach der Hand von Sozialarbeiterin Yamilé Casal.
„Mein Glauben hilft mir bei der Arbeit mit den alten Menschen, und im Gespräch mit ihnen ist das Evangelium auch ein Thema“, erklärt die 52-Jährige. Sie kam vor sechs, sieben Jahren aus Havanna hierher. Damals, um wie so viele andere in einem Hotel auf der Halbinsel Varadero anzuheuern: erst an der Rezeption, dann in einem der Touristenshops.

Doch das habe ihr gar nicht gefallen, sagt sie. Entsprechend froh war die gelernte Hotelfachfrau, als der Tipp kam, sich im CCRD zu bewerben. „Dank der Hilfe des CCRD konnte ich mich zur Sozialarbeiterin weiterbilden und bin heute deutlich zufriedener als früher“, sagt sie. Das liegt am für kubanische Verhältnissen fairen Lohn, dem Mittagessen, das es im CCRD für die rund 80 Mitarbeiter:innen gibt, und der gegenseitigen Hilfe innerhalb der Organisation. Die zählt zu den größeren Nichtregierungsorganisationen in Kuba, die angesichts sinkender Sozialausgaben ähnlich wie die Kirchen immer wichtiger werden.
Die Unterstützung der Rentner:innen der Revolution gehört seit mehr als 20 Jahren zum Programm. „Allerdings sind die Probleme größer geworden“, klagt Rita García, Direktorin des CCRD. Zwischen 2020 und 2023 hat sie rund 60 Prozent ihres Personals vor allem durch Abwanderung ins Ausland verloren und musste neue Leute ausbilden. Das hat funktioniert. Dennoch bleibt der Personalmangel ein ständiger Kampf. „Viele sind müde“, so García.
Das trifft auch auf Domínguez zu. „Ich habe nicht mal die Chance, Urlaub in einer anderen Stadt zu machen. An Auswandern kann ich gar nicht denken, ich habe kein Geld“, sagt die Krankenschwester, deren Tochter mit Enkelin in Cárdenas lebt. Auch Familie ist ein triftiger Grund zu bleiben. Aber das Fehlen einer Perspektive: es nagt an ihr. Und dagegen helfen auch gefüllte Henkelmänner und christliche Nächstenliebe nur wenig.
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