: Die Reserve findet Trost
„Dranbleiben und gut trainieren“: Rudi Völler mesmerisiert die Egos der deutschen Wechselspieler Baumann, Kehl und Ricken mit leichten Sprüchen und sorgt für turniertypischen Kollektivgeist
aus Cheju FRANK KETTERER
Frank Baumann zum Beispiel. Hat schon als kleiner Junge davon geträumt, einmal bei so einer Fußball-WM teilnehmen zu dürfen, und prompt hat ihn Rudi Völler mitgenommen nach Asien, auf den letzten Drücker und als Ersatz für den ausgefallenen Christian Wörns. „Für mich ist damit ein Traum in Erfüllung gegangen“, sagt Baumann, 26. Glücklich sah der Bremer Abwehrspieler während der nun schon bald fünf Wochen andauernden DFB-Reise dennoch nicht aus. Vergangenen Samstag hat sich das schlagartig geändert, da durfte endlich auch er mal mitspielen bei dieser WM. Baumann kam nach einer Stunde für den verletzten Christoph Metzelder und hat seine Sache nicht so übel gemacht. Und gestern, bei der obligatorischen Pressekonferenz in der Korean Baseball Hall of Fame, hat er dann zugegeben, damit zumindest sein „Minimalziel“ erreicht zu haben. Ob es zu mehr reicht, muss der weitere Turnierverlauf zeigen. Werden alle rechtzeitig fit und gesund fürs Viertelfinale am Freitag, dürfte es eng werden für Baumann, dann wird er über die Rolle des einmaligen Lückenfüllers kaum hinauskommen. „Ich weiß um meine Situation, dass andere im Moment den Vorzug erhalten“, sagt Baumann, der als zurückhaltender junger Mann beschrieben wird. Er hat sich damit arrangiert.
Sebastian Kehl zum Beispiel. Gilt als einer jener, die das Gerüst für die WM im eigenen Land in vier Jahren bilden sollen, beim Fest in Asien ist er hingegen mehr oder weniger als Lehrling dabei, gespielt hatte auch er bis zur zweiten Halbzeit am Samstag nicht. Da kam er für Marko Rehmer und machte seine Sache als Abwehrchef sehr gut. Auch Kehl, der als forscher junger Mann gilt und schon mal zwei verschiedenen Vereinen gleichzeitig seine Dienste zusichert, wurde zur gestrigen Fragestunde vorgeführt, und gesagt hat er dort: „Ich kann diese Position ausfüllen. Ich kann sie auch defensiv ausfüllen.“ Ob das die Garantie gebe, auch am Freitag mit von der Partie zu sein, wurde der Dortmunder des Weiteren gefragt. Darauf geantwortet hat er eher ausweichend und mit dem Hinweis, dass die gegen Paraguay gesperrten Carsten Ramelow und Didi Hamann ja wieder spielberechtigt seien. Kehl: „Es liegt am Trainer, sich zu entscheiden.“
Völler macht keinen Hehl daraus, wie ihm die Auswahl bisweilen zusetzt. „Das ist schwer, ich weiß das aus eigener Erfahrung“, sagt Rudi Völler dann, oder: „Es ist nicht immer so einfach“ – und dabei verschwindet dann das omnipräsente Völler-Lächeln und ein paar Falten legen sich auf die Stirn, eben weil der Teamchef weiß, was er den Spielern damit antut. „Jetzt ist alles vorbei“, hat Oliver Neuville, der Siegtrefferschütze vom Samstag nach dem Achtelfinalspiel gesagt – und damit eigentlich sagen wollen, dass jetzt alles wieder gut und in bester Ordnung sei, weil er erstmals von Beginn an mitkicken durfte. Davor hatte der Leverkusener nur 24 Minuten auf dem Platz gestanden.
„Sicherlich ist der eine oder andere unzufrieden und traurig, dass er nicht spielen kann“, sagt Sebastian Kehl, was bestimmt eine sehr vornehme Umschreibung ist. „Man fiebert seinem Einsatz entgegen und möchte seinen Namen in der Statistik lesen“, hat der lange Zeit verletzte Marko Rehmer schon in Japan Einblick in sein Seelenleben gewährt, und ebendort hat auch Marco Bode zugegeben, dass er „aus egoistischer Perspektive“ natürlich schon bei den ersten beiden Gruppenspielen gerne mit von der Partie gewesen wäre – und nicht erst ab dem letzten gegen Kamerun.
Mittlerweile ist jeder Spieler, mit Ausnahme von Lars Ricken, einmal zum Einsatz gekommen, wenn auch manchmal nur für ein paar Minuten in der Nachspielzeit, so wie Gerald Asamoah. Den Umstand, neue Spieler einsetzen zu müssen, weil andere gesperrt waren, hatte Vize-Bundestrainer Michael Skibbe schon vor dem Achtelfinale als „gut für die Moral“ bezeichnet, einfacher macht es Völler die anstehende Aufgabe nicht. Nun muss er selbst den einen oder anderen, der seine Bewährungschance genutzt hat, wieder ins zweite Glied zurückverbannen. Wen es trifft, will Völler natürlich nicht verraten, der Rest ist Spekulation. Hamann gilt als sicherer Rückkehrer, Ziege und Ramelow weniger. Wenn Hamann aber zurückkommt, was macht Völler dann mit Jens Jeremies und wie verfährt er mit Bode auf der linken Seite? Und ist die Zweitstürmerfrage tatsächlich geklärt, nur weil Neuville gegen Paraguay das Siegtor geschossen hat, oder sind Oliver Bierhoff und Carsten Jancker doch weiter im Spiel? Von Sebastian Kehl und Frank Baumann soll erst gar nicht mehr die Rede sein (außer natürlich, wenn Metzelders Verletzung nicht abklingt), Rehmer dürfte seine Chance fürs Erste vertan haben, er sieht das übrigens selbst so.
Fakt ist: Die Begehrlichkeiten sind gewachsen, und sie zu befriedigen kann zu Völlers Gretchenfrage für den Fortlauf des Turniers werden. Bisher hatte er auch diese Sache, die leicht die Stimmung verderben kann und somit den möglichen Erfolg, bestens im Griff, vielleicht auch, weil die Mannschaft weniger aus Lautsprechern und Stänkerern besteht – wie früher zum Beispiel Lothar Matthäus einer war, der sich zur Not schon mal von seinen Freunden von Bild ins Team schreiben ließ –, sondern eher aus Leisetretern wie Neuville und Baumann, die schweigen, auch wenn sie leiden. Und wenn einer tatsächlich mal zu forsch wird mit seinen Forderungen, so wie Bierhoff das vor dem Achtelfinale getan hat, bekommt er von Völler sogleich eine Lektion verpasst: Während Neuville Deutschland in die nächste Runde schießen durfte, musste Bierhoff am Spielfeldrand zuschauen – und sich die ganze zweite Halbzeit lang warmlaufen. Rumgemosert hat Bierhoff seitdem nicht mehr.
So herrscht in der deutschen Mannschaft nach wie vor eine oberflächliche Ruhe, zum Wohlgefallen des Chefs, der darauf hinweist, dass „bei so einem Turnier ja nicht immer die beste Mannschaft gewinnt“. Sondern manchmal eben jene, die sich auch neben dem Platz harmonisch gibt und sich nicht zwischen Eifersucht und Neid zerreibt. „Dranbleiben und gut trainieren“, rät Völler derweil all jenen, die beim nächsten Mal wieder nicht dabei sein werden. Und selbst Lars Ricken spendet er Hoffnung: Völler: „Das Turnier ist ja noch nicht zu Ende.“
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