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Bekanntlich ist Ostern das wichtigste christliche Fest. An Weihnachten dagegen verbündet sich Religion mit dem Kommerz und der bürgerlichen Familie
Von Dirk Baecker
Was bedeutet die Erfindung des bürgerlichen Weihnachtsfests im Biedermeier? Was ist die Pointe am Verständnis des Weihnachtsfests als Familienfest? Ist es Zufall, dass sich diese Entwicklung mitten im Jahrhundert der Säkularisierung, das heißt im Jahrhundert der Zurückstufung der Religion auf ein Funktionssystem der Gesellschaft unter anderen vollzieht?
Man weiß, dass das wichtigste Fest der Christenheit nicht die Geburt Jesu Christi, sondern seine Auferstehung feiert. Ostern ist das wichtigste religiöse Fest, nicht Weihnachten. Weihnachten hingegen unterliegt dem Verdacht einer sentimentalen Feier der Familie und einer kommerziellen Ausbeutung der neuen Bereitschaft, den Kindern mehr Aufmerksamkeit zu widmen und die braven mit Geschenken zu belohnen. Was hat das noch mit Religion zu tun?
Religion, so hat Emile Durkheim festgehalten, führt in die Gesellschaft eine Unterscheidung zwischen profanen und sakralen Dingen ein, die wichtiger sei als ihre ältere Unterscheidung zwischen gut und böse. Profane Dinge seien mehr oder minder homogen und verdienten nicht mehr als eine alltägliche Aufmerksamkeit, während sakrale Dinge heterogen sind und daher mit fein abgestuftem, rituell festgelegtem Respekt behandelt werden.
Die Unterscheidung dient der Ausdifferenzierung einer heiligen Sphäre der Dinge, Ereignisse, Geschichten und Figuren, doch wichtiger ist das, was diese Ausdifferenzierung übriglässt. Den außerreligiösen Rest der Welt, obwohl Teil der Schöpfung, macht sich der Mensch untertan und verwendet sie als Mittel für seine Zwecke. Profan ist, was zu beliebigen Zwecken behandelt werden kann; heilig ist, was seinen Zweck in sich selbst hat.
Die traditionelle Gesellschaft unterschied zwischen gut und böse und begründete so den Dominanzanspruch der Religion. Die neuzeitliche Gesellschaft unterscheidet zwischen sakral und profan und gibt so beidem ihr unterschiedliches Recht. Das Weihnachtsfest unterläuft diese Unterscheidung. Es führt eine dritte Kategorie ein. Es ist ein besonderes Fest mit besonderen Dingen und Speisen, Geschenken und Geschichten. Das Besondere ist weder heilig noch profan.
Die Bibel weiß etwas von Geschenken der Heiligen Drei Könige an das neugeborene, heilige Kind, aber sie weiß nichts vom Weihnachtsmann und nichts vom Weihnachtsbaum, dessen Lichter allerdings an die Sternennacht erinnern. Das Besondere nimmt Anleihen am Heiligen und wertet das Profane auf. Aber seine eigentliche Botschaft ist die Heraushebung des Fests aus dem Alltag.
Wem gilt dieses Fest? Aus Anlass der Geburt Jesu Christi, aber mit Anspielung auf die Wintersonnenwende und andere heidnische Feste feiert es die bürgerliche Familie, insbesondere die um die Großeltern erweiterte Kernfamilie. Die bürgerliche Familie feiert sich, sie ist das Besondere, das sich gegenüber dem Adel und der Industrialisierung und Urbanisierung behauptet.
Das Gedränge der Weihnachtsmärkte und der Rausch der Gaben profitiert von den religiösen Reminiszenzen wie umgekehrt die Heiligen Messen in der Kirche vom bürgerlichen Fest profitieren. Aber streng genommen ist das Weihnachtsfest die Implosion des christlichen Glaubens, in der die Inkarnation Gottes ebenso wie sein späterer Kreuzestod und seine Auferstehung zu einer Folklore geworden sind, in der sich Sentimentalität gegenüber der Familie und Melancholie um eine verlorene Evidenz des Glaubens zum Amalgam einer verwirrten Geselligkeit verbinden.
Man muss dieses Weihnachtsfest nicht als Dekadenzphänomen werten, geschweige denn als Symptom einer fortschrittlichen Moderne. Aber es verdient den Moment eines nachdenklichen Innehaltens. Weil man die Wucht einer gesellschaftlichen Dynamik, hier die Emanzipation der bürgerlichen Familie, selten so überzeugend vorgeführt bekommt. Und weil es faszinierend ist, zu sehen, wie sich die Religion, nicht nur die Kirche, noch lange nicht geschlagen gibt.
Die Religion verbündet sich mit dem Kommerz und der Familie. Sie weiß, dass es ohne minimale Momente der Transzendenz, der Auszeichnung des Heiligen nicht geht. Das Besondere wäre nicht besonders, wenn es nicht mit dem Index einer Aura ausgestattet würde, die über das Profane hinausweist. Es ist der Abglanz einer Religion – und wer will bestreiten, dass sich darin eine Ahnung von Zusammenhängen zeigt, die selbst religiöser Natur ist? Den Kitsch des Weihnachtsfests bekommt man nicht ohne einen Kontext, der selbst nicht kitschig ist.
Das Weihnachtsfest ist die Rache des Profanen am Sakralen, von dem es unterschieden wird. Im Besonderen verliert sich diese Unterscheidung, ohne die Erinnerung an ihre beiden Seiten aufzugeben. Es kommt zu einer Transzendenz des Immanenten, die nicht zufällig auf den Namen des Ökologischen hört. Denn im Ökologischen ist alles besonders. Nichts ist homogen, alles ist heterogen.
Darum wünschen wir uns eine frohe Weihnacht. Wir feiern die Unwahrscheinlichkeit unseres Lebens, derer wir auch dann innewerden, wenn wir nicht an Götter glauben. Die bürgerliche Familie, das sind wir alle. So oder so lässt sich weder der Adventszeit noch den Weihnachtsfeiern ein gewisser „katholischer“ (allumfassender) Übermut auch in schwierigen Zeiten nicht absprechen.
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