Die Pariser Vorstadt: Hier herrscht Egalität
Saint-Denis glänzt nicht. Es zerfällt und formt sich gleichzeitig neu. Das touristische Highlight ist die Kathedrale.
Nördlich der Pariser Stadtautobahn, im Häusermeer der Banlieue, gibt es 105.749 Dionysiker. Mit diesen genau gezählten Menschen sind keinesfalls jene Randale-Ekstatiker gemeint, die immer mal wieder Autos abfackeln. Einige der Dionysiker, um die es hier geht, zündeln vielleicht mit bei solchen sozialen Revolten. Aber mehrheitlich sind sie unauffällige Bürger: es handelt sich um die Einwohner der an Paris heranreichenden Stadt Saint-Denis. Auf Französisch heißen sie „les dionysien“.
Ihren beziehungsreichen Namen verdanken sie der legendären Stadtgründung durch den spätantiken Märtyrer Sankt Dionysos. Der Name des Heiligen hat sich im Lauf der Jahrhunderte zum harmlosen Zweisilber „Denis“ verschliffen; aber das Adjektiv hielt stand. Und so haben die Pariser zu ihren Nachbarn Dionysiker. Eine Konstellation, die nicht unpassend ist: sind sie selbst doch, mit der Eleganz ihrer Fassaden und Straßenzüge, so etwas wie in Schönheit schwelgende Apolloniker.
Paris und Saint-Denis sind nicht nur an Größe und Bedeutung denkbar verschieden. Ein Pariser, der Saint-Denis besucht, kommentiert seinen Eindruck gewöhnlich etwa so: „Die Basilika: fast so eindrucksvoll wie Notre-Dame. Aber die Stadt: die reinste Bronx. Eher Bagdad als Paris.“ Der Kontrast zwischen den beiden Städten ist in der Tat so heftig, dass eine Fahrt von der Pariser Gare du Nord zum Regionalverkehrsbahnhof von Saint-Denis ein wenig das ist, was in der Zeit vor 1989 eine U-Bahn-Fahrt von West- nach Ostberlin bedeuten konnte. Der heutige Pariser hat mit dem einstigen Westberliner gemeinsam, dass er im Nahverkehrszug sehr weit weg reisen kann. Zwar nicht, wie es im geteilten Berlin möglich war, weg vom Kapitalismus, aber weg vom Glanz und der Pracht des Kapitalismus. Weg von Apollo gewissermaßen. Und in einem gewissen Sinn gelangt auch er auf kommunistisches Territorium: Saint-Denis wird seit Jahrzehnten von kommunistischen Stadtverwaltungen regiert.
Es gibt Franzosen, die sich in Saint-Denis mit seinem hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund so verunsichert fühlen, dass sie verbittert von einer „aufgegebenen Stadt“ sprechen. Das Stadtbild zwischen Bahnhof und Basilika, man muss es zugeben, hat wenig Einladendes. Kaum etwas, was glänzt, leuchtet, verführt. Man ist in der Tat bei dem Gott Dionysos. Aber bei einem Dionysos, der von seinen vielen Attributen nur eines zurückbehalten hat: der Gott der Gleichheit zu sein. Hier herrscht Egalität. Aber eine Gleichheit, die nicht die Gleichheit eines dionysischen Rausches und auch nicht die Gleichheit einer kommunistischen Utopie ist. Es ist die Gleichheit des sozialen Ausschlusses aus der schönen reichen apollinischen Welt von Paris.
Anreise: RER Linie D bzw. "Transilien" (Nahverkehrsnetz) ab Gare du Nord; oder Metro-Linie 13
Die Basilika: Beginn der gotischen Kirchenbaukunst. Begräbnisort der französischen Könige.
La maison François Coignet: Erstes Wohngebäude aus Beton in Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts, 72 rue Charles Michels.
Oscar Niemeyer: Gebäude des brasilianischen Architekten (1989). Bis vor wenigen Jahren Pressesitz der kommunistischen Zeitung LHumanité.
La Petite Espagne: Stadtviertel, in dem sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spanische Arbeitsimmigranten gewissermaßen zu Füßen ihrer Fabriken ohne Baugenehmigung einfache Wohnhäuser errichtet haben. Heute im Wandel.
Musée dart et dhistoire de Saint-Denis: In einem ehemaligen Karmeliterinnenkloster aus dem 17. Jahrhundert; präsentiert auch eine der größten Sammlungen zur Geschichte der Pariser Kommune. www.saint-denis-tourisme.com
Die bürgerliche Vergangenheit
Der Namenspatron der Stadt, der frühchristliche Bischof Denis, ist bekanntlich in die Heiligenlegende eingegangen, weil er nach seinem Martyrium auf dem Pariser Montmartre mit abgeschlagenem Kopf bis zur Stätte der jetzigen Basilika gelaufen sein soll. Trägt die Stadt vielleicht nicht nur seinen Namen, sondern ist zur Inkarnation seines kopflosen Rumpfes geworden? Denn historisch und soziologisch ist das Bürgertum der Kopf von Städten, und im Stadtzentrum von Saint Denis gibt es kein Bürgertum. Nicht der Kult der Ware wird hier in schönen Boutiquen gepflegt, sondern in schnell eingerichteten Shops die Verhökerung der Billigproduktion der Welt betrieben.
Im Umkreis der Basilika behauptet sich eine Parzelle gediegener Stadtlandschaft. Das traditionelle Frankreich zieht einige Meter lang eine Bannmeile und verteidigt urbanistisch die „gute alte Zeit“. Da die feudale und stadtbürgerliche Vergangenheit aus der einst bedeutenden Stadt verschwunden ist, wirkt die imposante Kirche nackt.
Innen, im Licht der bunten Fenster, entfaltet das Kirchengebäude zwei sehr französische Werte: „beauté“ und „gloire“. Schönheit steigt an eleganten Säulen ins gotische Gewölbe auf, Ruhm gräbt sich unter würdigen Grabdenkmälern ins Erdreich. Hier war es, dass die gotische Architektur Ende des 12. Jahrhunderts einsetzte, und hier hatten die französischen Könige ihre Nekropole. Um die Grabmäler wuselt jetzt eine französische Schulklasse. Dazwischen eine einsame Gestalt mit einer weißen Lilie in der Hand: ein letzter Monarchist, der auch noch in der Fünften Republik einem verehrten König seine ungebrochene Treue bekunden möchte.
Der Planungswille
Nördlich an die Basilika schließt ein Viertel an, in dem Ende der 70er Jahre der ungebrochene Fortschrittsglaube der damaligen kommunistischen Stadtverwaltung eine Zone real existierender Moderne geschaffen hat. Als unsanierbar geltende Straßenzüge wurden komplett niedergelegt und eine schroff-futuristische Wohn-und Einkaufswelt aufgezogen. „Auferstanden aus Ruinen“ türmt sich eine Welt aus Planungswille und Zukunftsvorstellung empor, die schon nach wenigen Jahrzehnten Beton von gestern ist. Beton, leider nicht Schnee: statt langsam wegzuschmelzen, verrottet sie nur an den Oberflächen und Kanten.
Für den Monarchisten aus der Basilika, der inzwischen seine Lilie abgelegt hat und nun zwischen den steil aufragenden Wandflächen in den Eingang zu der nach Paris zurückführenden Metro verschwindet, dürfte das Viertel ein zweiter Affront sein, den das republikanische Frankreich der Basilika angetan hat: Nachdem es in den Revolutionsjahren den Fassadenschmuck verstümmelt und die königlichen Knochen aus den Gräbern gerissen hatte, hat es ihr nun die Nachbarschaft aus Beton und Glas aufgezwungen. Die eigentliche Stadt Saint-Denis repräsentiert nur die eine Hälfte der Stadt. Die zweite Hälfte ist die „Plaine Saint-Denis“: Jahrhundertelang wuchs hier nur Gemüse. Aber dann brach das Zeitalter der Industrialisierung an, und auf dem billigen Ackerboden entstand das größte Industriegebiet Europas.
Genauso rabiat wie der Aufstieg war der Abstieg: die Ölkrise Anfang der 70er Jahre und die schnell voranschreitende Deindustrialisierung der französischen Wirtschaft haben aus einer Zone solider Armut eine Zone schwärenden Elends gemacht. Bis die Kommunisten im Rathaus über den eigenen Schatten sprangen und finanzstarke Investoren anlockten. Dank des Geldsegens glitzern nun in der Verfallslandschaft immer mehr Parzellen, auf denen, wie von der Berührung eines Zauberstabs hervorgelockt, postmoderne Pracht aufsteigt. Als Zeichen dafür, dass die Zukunft begonnen hat, steht das monumentale Oval des 1998 zur Fußballweltmeisterschaft eröffneten „Stadion de France“ weithin sichtbar da.
In der gegenwärtige Plaine verrotten riesige Industriehallen. An anderen Stellen werden mit archäologischer Akribie angeschimmelte Fabrikgebäude so lange restauriert, bis sie sich zu cleanen Schalen für tertiäre Unternehmen mit Namen wie „Clever Network“ oder „Silhouette France“ geläutert haben. Eine der spektakulärsten dieser postindustriellen Umwidmungen ist die „Cité du cinema“ des Regisseurs Luc Besson: ein ehemaliges Elektrizitätswerk, das nun Hollywood Konkurrenz machen soll. In ihrer den alten Backsteinmauern abgewonnenen rot-orangefarbenen Pracht steht die Haupthalle des Komplexes da, als wundere sie sich selbst darüber, dass es doch so etwas wie Wiederaufstehung gibt und sie sich nun der Produktion künstlicher Träume hingeben darf.
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