Die Papierlosen von Marseille: Rausgehen wie die Franzosen
Noch können die Papierlosen auf eine Legalisierung ihres Aufenthalts hoffen – sofern Le Pen nicht an die Macht kommt. Sicher sind sie jedoch auch jetzt nicht.
Einen halben Kilometer weiter südlich, auf der Haupteinkaufsstraße von Marseille, steht zu dieser Zeit Ikram Aslouni. Um sie herum laufen Touristen, die zu den sandfarbenen Hallen des alten Hafens schlendern, Bettler, Straßenkehrer, in der Hand trägt sie Einkaufstaschen des Textildiscounters Primark. „Der Front National vermischt alles: Islam, Terrorismus und Einwanderung“, sagt Aslouni. Sie trägt aufgeklebte hellrosa Fingernägel, die Sonnenbrille in den Haaren, blondierte Strähnen. „Sarkozy hat auch so geredet, aber er meinte es nicht wirklich ernst“, sagt Aslouni.
Marine Le Pen hingegen ist es todernst damit, die Papierlosen aus dem Land zu drängen. Rund eine halbe Million sollen im Land leben, die Algerier sind wohl die größte Gruppe. Kein Auftritt, auf dem Kandidatin Le Pen Menschen wie Aslouni nicht eine „Tragödie“ oder eine „Gefahr“ für Frankreich nennt und sie nach jeder Terrornachricht in die Nähe von Islamisten rückt.
Aslouni, 20 Jahre alt, 2015 mit einem Touristenvisum aus Oran in Algerien eingereist, weiß das. Ihre Haut ist hell. Sie ist gläubig, aber sie trägt kein Kopftuch. So geht sie als Französin durch. Das ist ihr Glück in dieser Stadt, die voll ist mit Zivilpolizisten, auf der Suche nach den vielen Immigranten aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs, die nicht hier sein dürfen. Keine andere Großstadt Frankreichs ist im Straßenbild derart von der Einwanderung geprägt. Kontrolliert wurde Aslouni noch nie. So wagt sie sich in die Innenstadt, zum Bummeln, so wie jetzt.
Ohne Vater
„Es ist fast unmöglich, ‚black‘ Arbeit zu finden“, sagt Aslouni. Sie spricht „black“ nicht Englisch aus, sondern wie „Sack“. „Viel zu viele wollen das in dieser Stadt.“ Sie hat es trotzdem geschafft. In wenigen Stunden wird sie wieder in einem Sushi-Restaurant im 6. Arrondissement stehen und für 4,20 Euro die Stunde Reis einrollen.
Aber bis dahin ist noch etwas Zeit. „Lass uns was essen gehen“, sagt sie. Der City Grill Istanbul ist eine Dönerbude am Cours Belsunce, nahe dem alten Hafen. Aslouni bestellt Adana Kebab, dann senkt sie die Stimme. „Das ist der Chef,“ sie blickt in die Richtung eines Mannes der in der Ecke neben dem Eingang steht. „Er ist böse“, sagt sie. Vor einem Jahr hat sie hier gearbeitet, niemand erkennt sie heute wieder. Sie hat es nur zwei Tage ausgehalten.
Als Aslouni fünf ist verlässt ihr Vater die Familie um in Marseille zu leben. Als sie 18 ist, nach dem Abitur, besucht Aslouni ihn. Sie fahren nach Paris, Freiburg, in die Schweiz. Sie sieht, wie die Frauen in Europa sich kleiden, sie sieht die Innenstädte, die Restaurants. „Genial“, sagt sie.
Als sie wieder bei der Mutter in Oran ist, ruft ihr Vater an. „Komm her“, sagt er. „Ich besorg’ dir einen Platz an der Uni.“ Im September 2015 fliegt sie nach Marseille.
Aslounis Vater lebt mit einer Frau zusammen. Die will Ikram Aslouni nicht bei sich im Haus. Aslouni zieht bei einer Tante ein, wartet, dass ihr Vater das Visum besorgt. Doch das geschieht nicht. Bald geht er nicht mehr ans Telefon. Aslouni geht zu seiner Bäckerei, er lässt sich verleugnen. Irgendwann ruft seine neue Freundin die Polizei als Aslouni auftaucht. Sie bricht den Kontakt ab.
Ohne Maghrebiner
Ihr Cousin, der Sohn der Tante, wird zudringlich. Aslouni zieht aus, schläft auf dem Bahnhof St. Charles. Eine Sozialarbeiterin besorgt ihr eine Wohnung. Sie sucht Arbeit, mal hier, mal da, ein paar Tage im City Grill. Ihr Vermieter weiß, in welcher Lage Aslouni ist. Auch er wird zudringlich. Sie zieht aus.
„Wenn ich jetzt zurückgehe, darf ich zehn Jahre nicht mehr nach Frankreich, weil ich mein Visum überzogen habe“, sagt Aslouni.
Die Wahl: Am 23. April ist die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahlen. Abgestimmt wird auch über die Zukunft der EU: Die Umfragewerte des rechtsextremen Front National sind höher als bei allen früheren Wahlen.
Die Tour: Die taz ist mit zwei Reporterteams in Frankreich unterwegs: In der Provinz und in Paris erkunden sie, was die Menschen umtreibt, welche Zukunft sie sich für ihr Land wünschen und wer dafür die Verantwortung tragen soll.
Die Kooperation: Für die Berichterstattung zur Frankreich-Wahl kooperieren wir mit der Tageszeitung Libération.
Die Papierlosen: Bisher haben Papierlose die Möglichkeit, irgendwann legal in Frankreich zu leben. Sie müssen durchgängig eigenes Geld verdient und keine Straftat begangen haben. Mit einem mächtigem Front National wäre das wohl nicht möglich.
Die Sozialberatungsstelle hat ihr eine Krankenkassenkarte für Menschen ohne Aufenthaltsrecht ausgestellt. Sie kann damit zum Arzt, zur Apotheke. „Trotzdem ist es schrecklich, illegal zu sein“, sagt Aslouni. „Wenn ich nicht arbeiten kann, habe ich nichts.“ Nie schwarzfahren, keine Discos, keine Ort, wo viele Maghrebiner sind. Nur halb so viel Geld verdienen, wie die Kollegen mit Arbeitserlaubnis.
Aslouni nimmt sich einen Anwalt, der dabei helfen soll, ihren Aufenthalt zu legalisieren. „Er sagt, es ist jetzt noch zu früh.“ Je länger man im Land lebt, desto besser sind die Chancen. Drei Jahre, mindestens, sagt der Anwalt. Ende 2018 vielleicht.
„Ein illegaler Ausländer darf niemals ein Aufenthaltsrecht bekommen“, steht auf der Timeline von Marine Le Pen. Ihr Konkurrent, der Linke Jean Luc Mélenchon, wolle „die ganze Welt nach Frankreich lassen“. Sie werde dies niemals tun.
Das macht ihr Angst, sagt Aslouni, Le Pen hasst die Algerier, glaubt sie.
Ohne Arbeit
Am nächsten Tag kommt Marine Le Pen nach Marseille. Es ist ihr vorletzter Auftritt vor der Wahl am Sonntag. „Ganze Stadtteile werden hier für uns fremde Bereiche. Die Werte unserer Zivilisation sind hier in Frage gestellt“, wird sie sagen.
Noailles ist ein Viertel im Nordosten der Innenstadt. Auf den Straßen sind Obdachlose, viele Afrikaner, besetzte Häuser. In einem lebt Malik B., 37, aus Mostaganem, einer Küstenstadt im Westen Algeriens. Jetzt sitzt er am Cours Julien vor einer Bar, der Wind beugt die Zypressen auf dem Spielplatz. Malik B.s Haut ist dunkel. Er meidet die Innenstadt. Sein Nachname soll nicht genannt werden.
In Algerien hat er Motorräder repariert, acht Jahre auf dem Bau Lkw gefahren, von Samstag bis Donnerstag. Am Ende des Monats gab es 150 Euro; eine Frau fand Malik so nicht. Ein Bruder und ein Freund waren Jahre zuvor nach Marseille gezogen. Einer sang arabische Raï-Lieder auf Hochzeiten, der andere fand Arbeit als Mechaniker. Wenn sie zu Besuch kamen, brachten sie Malik B. Turnschuhe, teures Rasierwasser, manchmal auch einen Anzug mit. „Was tust du hier noch“, fragten sie. „Hier gibt es doch nichts.“
Im September 2015 bekam er ein Touristenvisum. „Das Ticket war im Angebot, 20.000 algerische Dinar, 170 Euro, ich musste Hin- und Rückflug buchen“, sagt B. 700 Euro hatte er in der Tasche, nach sechs Wochen war das Geld weg. Der erste Chef war ein Choleriker, sagt B. Der zweite ließ ihn Fliesen legen 14 Stunden am Tag für 30 Euro. Am Anfang gab er den Arbeitern Cola aus. Dann zahlte er seltener, später gar nicht mehr.
Jede Arbeit, die ein papierloser Migrant bekommt, ist eine weniger für die französischen Arbeiter, sagt Marine Le Pen.
Ohne Familie
„Ich habe ihn angerufen, irgendwann war die Nummer tot“, sagt B. Dann sah er ihn, mit einem neuen Audi A1. „10.000 Euro kostet der“, sagt B., Seine Rechnung aber beglich der Chef nie. B. saß auf der Straße, hatte nichts zu essen, vor einem Jahr zog er in das besetzte Haus. Hin und wieder hilft er bei Umzügen.
Dieser und viele weitere Artikel wurden durch finanzielle Unterstützung des taz Auslandsrecherchefonds möglich.
Die Grenzpolizei schickt Zivilstreifen durch Marseille. Am 13. Februar war Malik B. auf der Einkaufsstraße Canebière unterwegs. „Ich habe es ihnen schon von Weitem angesehen.“ Die Polizisten wollten seinen Ausweis, drei Tage kam er in Gewahrsam. „Ich habe geweint“, sagt B. 500 Euro kostete der Anwalt, 700 Euro das Bußgeld. Die Leute aus dem besetzten Haus zahlten für B. Er kam frei, stellte einen Asylantrag. Der wurde sofort abgewiesen. Jeden Tag könnte er abgeschoben werden. „Man hat nie seine Ruhe“, sagt er. „Wenn ich Aufenthalt bekäme, würde ich wie die Franzosen einfach so herumlaufen“, sagt er.
Sein Vater sagt: Komm zurück. Er sagt: Was soll ich da?
„Von Le Pen habe ich schon in Algerien in der Zeitung gelesen“, sagt Malik B. Er hat Angst, dass sie die Gesetze ändert, noch mehr Polizei schickt, das Haus räumen lässt, in dem er lebt.
„Wenn ich Aufenthalt bekäme, würde ich sofort Arbeit finden“, sagt er. Dann könnte er eine Familie gründen. „Stell dir vor, ein Mann in meinem Alter, ohne Familie, das ist schlimm. Ich könnte heute mit meinem Baby spielen. Aber das ist nur ein Traum.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern