■ Die Nato braucht eine neue Nuklearstrategie. Doch Joschka Fischers Forderung nach einem „No first use“ ist überholt: Das Falsche im Richtigen
Wer hat für einen Moment nicht den Atem angehalten: Rußland, so hieß es, habe seine Nuklearwaffen wieder auf westliche Ziele ausgerichtet. Trotz Moskauer Dementi wurde damit schlagartig klar, daß der Krieg auf dem Balkan eine höchst gefährliche Dimension hat: die nukleare Eskalation.
Zwar ist Alarmismus fehl am Platze, da der Einsatz russischer Nuklearwaffen unwahrscheinlich ist. Aber er kann auch nicht axiomatisch ausgeschlossen werden, vor allem nicht, wenn man die unkalkulierbare innenpolitische Lage in Betracht zieht. Mit Jelzins Drohgebärde rückte Vergessenes ins Bewußtsein: Es gibt ja immer noch Atomwaffen.
Nun hat die Nato ihr neues Strategiedokument beschlossen. Darin behält sie sich die Möglichkeit des atomaren Ersteinsatzes vor. Zwar ist die „No first use“-Initiative von Joschka Fischer politisch „tot“; eines allerdings hat Fischer erreicht: Über die Nuklearstrategie kann wieder diskutiert werden.
Daran ändert auch nichts, daß die Vorbereitung nicht sorgfältig genug und daher der Abwehrreflex in Washington absehbar war. Die Heftigkeit, mit der die USA jedoch reagierten, war unangemessen. Schließlich geht die Forderung nach Verzicht auf den atomaren Ersteinsatz auf höchst angesehene Mitglieder der strategischen Community in den USA zurück. 1982 waren George McBundy, Robert McNamara, George F. Kennan und Gerard Smith mit diesem Appell an die Öffentlichkeit getreten.
Fischers Initiative in die verhängnisvolle Tradition des deutschen Sonderweges einzureihen, wie es durch einige Kommentare geschah, ist eine Instrumentalisierung deutscher Vergangenheit. Damit läßt sich jede außenpolitische Regung der Bundesrepublik stigmatisieren. Andererseits: Für die dringend notwendige Debatte über die Nuklearstrategie der Allianz war die Wahl eines durch das Ende des Ost-West-Konfliktes überholten Vorstoßes auch nicht sonderlich hilfreich. Denn das „No first use“-Konzept der US-„Viererbande“ bezog sich auf eine militärstrategische Lage, die heute entfallen ist: Es beruhte auf der Sorge, daß die USA im Kriegsfalle durch die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Vertrages in einen frühzeitigen Einsatz von Nuklearwaffen in Europa gezwungen würden.
Das alles ist Schnee von gestern. Ein Ersteinsatz von Nuklearwaffen, wie auch dessen Ablehnung, muß heute anders begründet werden, weil die Nato längst eine strategische Redefinition vorgenommen hat: Atomwaffen sollen vor jeder Art von Angriff auf ihre Mitgliedsstaaten abschrecken. Die politische Opposition dagegen kann sich daher nur gegen diese Begründung wenden und nicht etwa – wie es Fischer versuchte – gegen einen historisch erledigten Zusammenhang. Aber warum tat Fischer das Falsche im Richtigen?
Innenpolitischer Hintergrund dafür ist die Erinnerungslosigkeit der Bündnisgrünen: Eine kritische Aufarbeitung der sowjetischen Außen- und Sicherheitspolitik hat bei den Bündnisgrünen nie wirklich stattgefunden. „Raus aus der Nato“, hieß es noch vor kurzem. Die ketzerische Frage, worin denn die politischen Alternativen zur atomaren Abschreckungspolitik angesichts „hegemonistischer Ambitionen des Stalinismus“ (Daschitschew) bestanden hätten, ist noch immer ein Tabu. Die bislang größte militärische Bedrohung westlicher Demokratien durch eine bis an die Zähne bewaffnete Diktatur hat sich ohne einen Schuß erledigt. Ist die Schlußfolgerung daher unzulässig: Auch wegen der westlichen Verteidigungsfähigkeit inklusive Nuklearwaffen? Und was historisch funktioniert hat, warum soll es nicht auch heute und zukünftig brauchbar sein?
Der Praxis zu erlauben, den Irrtum zu beweisen, ist normativ untersagt. Was wir also brauchen, ist eine intelligente Strategiedebatte jenseits überholter Konzepte wie „No first use“ und jenseits der friedensbewegten Scholastik, der Friede sei nicht wegen, sondern trotz Nuklearwaffen erhalten geblieben. Die Befürworter der geltenden Nukleardoktrin der Nato haben die Realität auf ihrer Seite. Aber wird die normative Kraft des Faktischen – daß Nuklearwaffen den Mitgliedsstaaten ihre territoriale Integrität bewahrt haben – für die Zukunft ausreichen?
Tatsache ist, daß die Argumente über die Paradoxien von Nuklearwaffen, wie sie Anfang der 70er von Carl Friedrich von Weizsäcker, Horst Afheldt und Dieter Senghaas formuliert wurden, bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren haben: Mit Atomwaffen kann man vom Krieg abschrecken, ihn aber wegen des Risikos eines nuklearen Weltbrandes nicht führen.
Wie glaubwürdig ist dann die Drohung mit ihrem militärischen Einsatz? Verringert man dagegen ihre furchtbaren Folgen durch höhere Zielgenauigkeit und geringere Sprengkraft („Konventionalisierung“, „begrenzter Nuklearkrieg“), wird zwar die Einsatzdrohung glaubwürdiger, zugleich verlieren Atomwaffen jedoch ihre abschreckende Wirkung und erhöhen die Kriegswahrscheinlichkeit in spannungsgeladenen Zeiten. Kriegsverhinderung durch Kriegsführung? In diesem unauflösbaren Dilemma befindet sich die westliche Nuklearstrategie, seit es mehr als eine Atommacht gibt.
Heute kommt eine neue Weltlage hinzu: Die politische Bewältigung der komplexen Folgen der Globalisierung beherrscht die Außenpolitik, aber dahinter läuft die rüstungstechnologische Entwicklung ungebremst weiter. Die strategische Schule der „Kriegsverhinderung durch die Fähigkeit zur Kriegsführung“ ist noch immer Mainstream in den USA und der Nato. Das ist gegenwärtig zwar ohne Auswirkungen auf die Politik. Aber was wird sein, wenn sich neue, bislang unbekannte globale Konfliktkonstellationen darstellen? Wenn also wie früher nach (militärischen) Fähigkeiten realer oder vermeintlicher Gegner und nicht nach ihren (politischen) Absichten gefragt wird?
Die abschreckungskritische Vernunft beschwört, daß – wenn Abschreckung versagt – Nuklearwaffen das Risiko der Eskalation, der ökologischen Verwüstung und des politischen Ansehensverlustes seiner Anwender bereithalten. Dahinter steht die Hoffnung, daß die zivilisatorischen Skrupel größer sein werden als die militärische Logik des Krieges. Aber was wird sein, wenn die Denkweise militärisch-instrumenteller Intelligenz in einer Zeit höchster politischer Spannung Macht über die Politik gewinnt? Kann das zuverlässig ausgeschlossen werden?
Was wir also brauchen, ist ein strategisches Konzept, das aus den Wirrungen der geltenden Nukleardoktrin hinausführt, ohne die Selbstverteidigungsfähigkeit des Westens in Frage zu stellen. Ein solches Konzept gibt es in Gestalt der nuklearen „Minimalabschrekkung“, das – anders als „No first use“ – auch nach dem Ende des Rüstungswettlaufes noch praktikabel wäre. Dabei geht es um ein weitgehend mobiles nuklearstrategisches Potential von einigen hundert Sprengköpfen, einsetzbar gegen zivile und militärische Ziele, groß genug, um Feinde durch die Androhung erheblicher Schäden von jeglichen militärischen Abenteuern gegen die Nato abhalten zu können, aber zu klein, um den Gegner zu entwaffnen. Es wäre aber allemal groß und flexibel genug, um nukleare Zwerge und „Schurkenstaaten“ abschrecken zu können. Um die politische Abschreckungsfunktion zu bewahren, wird ebenfalls ein etwaiger Ersteinsatz von Nuklearwaffen nicht ausgeschlossen.
Die Vorteile einer solchen Strategie liegen auf der Hand :
Sie ist 1. weitaus radikaler als die Forderung nach „No first use“, bietet 2. Stabilität auch in politischen gespannten Zeiten, erlaubt 3. signifikante Denuklearisierung ohne sicherheitspolitisches Risiko, ist 4. wirksamer als eine deklaratorische „No first use“-Erklärung, die jederzeit wieder zurücknehmbar ist, veranlaßt 5. die europäischen Nato-Mitglieder zu einer Standortbestimmung der französischen und britischen Nuklearwaffenpotentiale im Rahmen der GASP der EU, da der „nukleare Schutzschirm“ der USA weitgehend zusammengefaltet würde, setzt 6. erhebliche zivil-ökonomische Ressourcen frei und nähert sich 7. der Utopie einer atomfreien Welt in realitätsbezogenen Schritten.
Unter zivilisatorischen Aspekten ist es sicherlich deprimierend, daß der Zustand der Welt nicht so ist, daß der Westen auf absehbare Zeit auf Nuklearwaffen verzichten kann. Aber wenn schon Nuklearwaffen, dann im Rahmen von Strategien, die auch in Spannungszeiten nicht zum Kriegsgrund werden können. Auch das sollte uns eine Lehre aus dem Krieg im Kosovo sein. Wolfgang Bruckmann
War die nukleare Rüstung der Nato in den 80ern wirklich ein Fehler?Nukleare Minimalabschreckung – das ist das Konzept der Zukunft
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