Die NSU-Serie Teil 2: Die V-Männer und ihre Führer
Sieben vermeintliche Sicherheitsbehörden führten über 40 V-Männer und V-Frauen im Umfeld des NSU. Eine Übersicht über die brisantesten.
Im Oktober 1998 wendet sich der Anwalt Gert Thaut an die Staatsanwaltschaft Gera: Er will für das seit knapp neun Monaten abgetauchte NSU-Kerntrio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe herausfinden, welches Strafmaß die drei erwarten würde, wenn sie sich stellten. Die Idee zu diesem Deal hatte der Thüringischen Verfassungsschutz selbst. Er hatte Thaut beauftragt und auch die Anwaltskosten von insgesamt 1.409,48 Mark übernommen. Doch der zuständige Oberstaatsanwalt Arndt Peter Koeppen lehnt ab. Das Trio bleibt im Untergrund – und beginnt von dort zu rauben und zu morden.
Die Geschichte ist eines der vielen Fragmente, die seit dem zufälligen Auffliegen des NSU das Wirken der Geheimdienste fragwürdig und rechtswidrig erscheinen lassen. Sie zeigt einmal mehr, welche engen Verbindungen zwischen dem Verfassungsschutz und dem Trio bestanden haben müssen.
Sieben vermeintliche Sicherheitsbehörden – von Verfassungsschutzämtern bis Militärischem Abschirmdienst – führten insgesamt 40 V-Männer und V-Frauen im Umfeld des Trios. Bis heute sind nicht alle Identitäten der Spitzel geklärt. Martina Renner, Expertin für Innenpolitik und Sprecherin für antifaschistische Politik der Linken im Bundestag, sagt, das liege auch daran, dass Akten vernichtet und Beweismittel zurückgehalten würden. Die Bundesanwaltschaft hätte längst als Ermittlungsführerin eingreifen müssen – tat sie aber nicht. „Sie ist seit Jahrzehnten in die V-Leute-Führung involviert. Sie wird nicht Teil der Lösung sein“, glaubt Renner.
Bis heute ist nur bruchstückhaft öffentlich bekannt: Was wussten die V-Leute von dem Untergrundleben der drei? Was gaben sie zu den zehn Morden weiter, was verschwiegen sie von den drei Bombenanschlägen? Was war den V-Leute-Führern bekannt? Welche Informationen über Waffenbeschaffungen hielten sie wegen des Quellenschutzes zurück? Und vor allem: Wer schützte wen?
1. Die V-Männer
Carsten Szczepanski „Piatto“
Carsten Szczepanski lieferte dienliche Hinweise, die allerdings nicht verfolgt wurden. Der schwerkriminelle Rechtsextreme hatte sich im Gefängnis selbst dem Brandenburger Verfassungsschutz (VS) angedient. 1995 war er wegen Mordversuchs an einem Nigerianer zu acht Jahren Haft verurteilt wurden. Schon in der U-Haft begann die Zusammenarbeit, die von 1994 bis 2000 lief. 1997 kam er frei, eröffnete in Königs Wusterhausen einen Laden für rechte Musik und baut das rechtsextreme Netzwerk Blood & Honour (B & H) mit auf – jenes Netzwerk, das den drei NSU-Mitgliedern Wohnungen, Ausweise, Geld und Waffen besorgte.
Am 9. September 1998 erzählte Szczepanski seinem V-Mann-Führer, dass ein Blood-&-Honour-Kader Kontakt zu dem Trio habe und „die drei Skinheads mit Waffen versorgen“ solle. „Hallo, was ist mit der Bums“ soll jener Kader, Jan Werner, ihm gesimst haben. Bei einer Vernehmung sagte Szczepanski, die Chemnitzer Szene habe gewusst, dass das Trio nach dem Untertauchen in der Stadt war.
Der Fall: Vor fünf Jahren, am 4. November 2011, flog mit dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) auf. Die taz widmet sich aus diesem Anlass die ganze Woche lang mit einer täglichen Schwerpunktseite dem Erinnern an das Geschehene und der Analyse des Rechtsterrorismus
Alle Teile: online unter www.taz.de/NSU-Serie
Bis heute hat sein damaliger V-Mann-Führer, Gordian Meyer-Plath, keine moralischen Bedenken, den Schwerkriminellen beauftragt zu haben: „Piatto“ habe „auf Anhieb“ ihr „Lagebild und das anderer Verfassungsschutzbehörden“ verbessert. „Es war ein Quantensprung.“ Heute leitet Meyer-Plath den VS Sachsen.
Ralf Marschner „Primus“
Im September diesen Jahres stand fest: Die Schweizer Behörden werden Ralf Marschner nicht ausliefern. Über 40 Straftaten listet die Polizei in ihren Dateien zu dem einstigen Zwickauer Rechtsextremen auf – von Diebstahl über verfassungsfeindliche Kennzeichen bis Körperverletzung. Wegen Insolvenzverschleppung besteht Haftbefehl. Maschner war von 1992 bis 2002 V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz.
Laut Zeugenaussagen soll er in seinem Zwickauer Modegeschäft Beate Zschäpe und bei seiner Baufirma Uwe Mundlos beschäftigt haben – zur Zeit ihrer Illegalität. Als der NSU aufflog, meldeten sich schnell Zeugen, die das bestätigten. Die Ermittler befragten die frühere Szenegröße und ehemaligen Top-V-Mann 2012 und 2013. Marschner, der im Schweizer Chur lebt, stritt alles ab. Das Trio will er nicht gekannt haben. Glück für ihn und seinen Dienstherrn: Im Hochwasser 2010 wurden zwei Akten des NSU-Prozesses vernichtet, die Marschner betrafen.
Tino Brandt „Otto“/„Oskar“
Der heute 41-Jährige lenkte das Netzwerk Thüringer Heimatschutz (THS) mit seinen rund 170 Anhängern, zu dem auch die Kameradschaft Jena gehörte. In beiden war das spätere NSU-Trio organisiert. Von 1995 bis 2000 lieferte Brandt dem Thüringischen Verfassungsschutz (VS) Informationen. In dieser Zeit führte er nicht nur den THS, er wurde auch NPD-Landesvize. Dem VS ist es eigentlich verboten, Führungsfiguren zu bezahlen. Im Jahr 2001 wurde Brandt daher abgeschaltet, zwei Monate später aber reaktiviert.
Gegenüber dem Oberlandesgericht in München verneinte er, auf das NSU-Trio angesetzt worden zu sein. Nah an ihnen dran war er dennoch: Bis zu 3.000 Mark sammelte er auf Szenekonzerten für sie, das Geld übergab er einem Kontaktmann. Auf den will er den VS hingewiesen haben.
Auch berichtete er, das Trio finanziere sich über den Verkauf eines selbstgestalteten „Pogromly“-Spiels, ähnlich Monopoly. Das Amt ließ über Brandt „Pogromly“-Spiele kaufen – 100 Mark das Stück – und übergab ihm 1.800 Mark – für die Ausreise der Untergetauchten. Das Geld verschwand, das Trio blieb. Rund 200.000 Mark erhielt Brandt für seine Dienste – selbst in der Behörde gilt das als „exorbitant hoch“. Das Geld floss laut Brandt in die Szene, für Reisekosten bis zur Bezahlung von Geldstrafen für Kameraden.
Vor Gericht belastete Brandt Zschäpe schwer: Sie sei eine politisch überzeugte Frau, „keine dumme Hausfrau“. Zschäpe sagte später, Brandt „hatte überall seine Finger im Spiel“. Der Mitangeklagte Ralf Wohlleben meinte, Brandt habe gewusst, wo das Trio lebte und Geld für eine Mordwaffe beschaffte.
Mittlerweile sitzt Brandt in Haft: Im Dezember 2014 verurteilte ihn das Landgericht Gera wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und deren Vermittlung an andere Erwachsene zu fünfeinhalb Jahren.
Thomas Richter „Corelli“
Er war einer der am besten verdienenden Spitzel des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) und starb unter dessen Obhut Ende März 2014 – kurz vor einer geplanten Vernehmung. Richter sollte zu einer gefundenen CD mit dem Titel „NSU/NSDAP“ befragt werden, die er mitproduziert haben soll. Von 1994 bis 2007 lieferte er Informationen, für die er insgesamt 180.000 Euro erhalten haben soll. Seit seiner Enttarnung 2012 war er im Zeugenschutz. Offiziell hieß es erst, er sei an einer nicht erkannten Diabetes gestorben. Aber die Ermittlungen laufen weiter.
Anfang der 2000er war er einer der „führenden Kader“ bei den Freien Kameradschaften und Blood & Honour. 1995 hatte er Mundlos bei einem Rechtsrockkonzert in Dresden kennengelernt. Dem VS teilte er mit, dass Mundlos mit Freunden die Kameradschaft Jena gegründet habe. Im persönlichen Kontaktverzeichnis von Mundlos fanden sich die Daten von Richter. Das BfV erklärte indes offiziell, der V-Mann habe mit dem NSU nichts zu tun gehabt. Das Amt stufte ihn intern mit der Bewertungsstufe „B“ ein, heißt: Diese Quelle galt als verlässlich.
Richter lieferte auch Informationen zur deutschen Sektion des Ku-Klux-Klan (KKK). Recherchen der taz ergaben: Auch Kollegen der vom NSU getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter gehörten zum KKK.
Michael See/von Dolsperg „Tarif“
Michael von Dolsperg soll sich 1994 selbst beim Verfassungsschutz als V-Mann angedient haben. Drei Jahre zuvor, am 25. November 1991, griff er mit Angehörigen der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei im thüringischen Nordhausen das Ausländerbegegnungscafé an. Zusammen mit zwei anderen Beschuldigten wurde er später wegen versuchten Totschlags in zwei Fällen vor einer Disko festgenommen und zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er wendete sich an das Bundesinnenministerium, bat um Hilfe beim Ausstieg und bot sich als Informant an. Resultat: See, wie er vor seiner Hochzeit hieß, lieferte bis 2003 gegen ein monatliches Gehalt von 500 bis 600 Mark Informationen an das Bundesamt für Verfassungsschutz, unter anderem über die Kameradschaft Leinefelde im thüringischen Eichsfeld, die Kameradschaft Jena und den THS.
In einer achtstündigen Vernehmung am 10. März 2014 bei der Bundesanwaltschaft soll von Dolsperg ausgesagt haben, dass ein Mitglied des Thüringer Heimatschutzes (THS), André Kapke, ihn Anfang 1998 gebeten habe, das gerade untergetauchte Trio zu verstecken. Dolsperg will sofort seinen V-Mann-Führer verständigt haben. Der soll ihm geraten haben, den dreien keinen Unterschlupf zu gewähren. Kapke vom THS bestreitet, Dolsperg um Hilfe gebeten zu haben.
Thomas Starke „VP 562“
Schon für die Kriminalpolizei in der DDR spitzelte Starke. 1986 informierte der Skinhead bei einer Spezialabteilung der Polizei unter den Decknamen „Franz Schwarz“ über die rechte Skinhead – und Fußballrowdyszene. In den 1990er Jahre lernt er das später NSU-Kerntrio bei einem Konzert der Rechtsrockband Oithansie kennen. Er war einer der führenden B&H-Köpfe in Sachsen und in Chemnitz gehörte er der Skinheadgruppe 88er an.
Als er unter anderem wegen Beihilfe zur versuchten schweren Brandstiftung und gefährlicher Körperverletzung im Gefängnis saß, bekam er Post vom Trio. Nach seiner Entlassung wurde er Zschäpes Liebhaber – von Ende 1996 bis April 1997. In München sagt er vor Gericht, das er gerne eine tiefere Beziehung zu ihr wollte, sie aber nur „ihre Uwes“ und Politik im Kopf hatte.
Er besorgte ihnen den ersten Sprengstoff, rund ein Kilo TNT. Bereits Ende 2000 hatte er mit Informationen die Rechtsrockband „Landser“ stark belastet. Seitdem diente er als V-Mann dem Berliner LKA – bis Anfang 2011. Von 2001 und 2005 lieferte er alias „VP 562“ bei 38 Treffen mindestens fünf Mal Hinweise zu dem Trio und dessen Unterstützer. Auch er wies auf Jan Werner hin, der B&H-Kader soll zu den „drei Personen aus Thüringen“ Kontakt habe.
2. Die V-Mann-Führer
Lothar Lingen
Er handelte schnell. Am 11. November 2011, drei Tage nachdem Zschäpe sich in Jena stellte, gab der Leiter des Referats Beschaffung des BfV Lothar Lingen (Deckname), die Anweisung, Akten von sechs V-Männern zu vernichten. Auch „Tarifs“ (Dolspergs) Akte, die zur Operation „Rennsteig“ gehörte, wurde geschreddert. Bis zum 4. Juli 2012 hat das Bundesamt 310 Akten vernichtet.
Die Angehörigen des NSU-Opfers Mehmet Kubasik haben über ihre Anwälte bei der Staatsanwaltschaft Köln Strafanzeige gegen Lingen und weitere unbekannte Mitarbeiter erstattet. Die Vorwürfe unter anderem: Strafvereitelung und Urkundenunterdrückung. Die Witwe Elif Kubasik erklärt: „Uns ist Aufklärung versprochen worden, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich möchte wissen, ob der Verfassungsschutz Informationen hatte, mit denen der Mord an meinem Mann hätte verhindern werden können“.
2013 stellten bereits die Anwälte der Familie des Opfer Süleyman Tasköprü Anzeigen wegen der Aktenvernichtung – damals noch gegen unbekannt.
Andreas Temme
Nichts gehört, nichts gesehen, nichts gesagt. Am 6. April 2006 erschießen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Halit Yozgat in seinem Kasseler Internetcafé. Einer der Besucher: Der Verfassungsschützer Andreas Temme. Die Polizei weiß nicht, ob er genau im Café war als der Schuss fiel. Sie glaubt ihm wenig, denn sie rekonstruieren, dass er das Internetcafé mutmaßlich um 17.02 Uhr und 45 Sekunden verlassen hat – 41 Sekunden, bevor Ismail Yozgat seinen toten Sohn findet.
Bis heute behauptete Temme, der auch V-Mann-Führer im rechtsextremen Spektrum war, vor dem Oberlandesgericht München und Untersuchungsausschüssen nichts mitbekommen oder beobachtet zu haben. Sein Aufenthalt wäre aber ganz privat gewesen, nachweislich besuchte er Online-Flirt-Portale. Seine Glaubwürdigkeit erschüttere er durch sein Verhalten – weder bei der Polizei, noch bei seinem Arbeitgeber meldete er sich als Zeuge.
Als ein VS-Kollege ihn nach dem Mord fragte, ob er das Internetcafé kenne, soll er mit „nein“ geantwortet haben. Erst fünfzehn Tage nach dem Mord entdeckte ihn die Polizei. Bei der Durchsuchung stellten die Beamte Nazimaterialen und Waffen sicher.
Trotzdem schützte ihn der VS vor den Polizeiermittlungen: Der Geheimschutzbeauftragte riet ihm, bei seiner Aussage vor der Polizei „so nahe wie möglich an der Wahrheit“ zu bleiben. Hohe Vorgesetzte des VS trafen sich mit ihm. Der damalige Innenminister Volker Bouffier (CDU), heute hessischer Ministerpräsident, intervenierte: Anfang Oktober 2006 untersagte er den Ermittlern die Vernehmung von V-Männer und verbot Temme, Näheres über seine V-Leute auszusagen – aus Geheimhaltungsgründen. Der Grund könnte der V-Mann sein, den Temme führte: Benjamin G., sein Stiefbruder, soll bei B&H aktiv gewesen sein. Er selbst steht auf einer Liste des BKA mit Namen, die Kontakte zum NSU gehabt haben könnten.
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