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Die Maschinerie zurückgefahren

Mit „Körper“ von Sasha Waltz eröffnete das neue Ensemble der Berliner Schaubühne sein Programm. Das Stück ist ein Ritual der Reinigung und der Bruch mit der abgelagerten Theaterliteratur. Allein die Tänzer, ihre Körper nehmen das Theater in Besitz ■ Von Katrin Bettina Müller

Mit einer programmatischen Aneignung des Hauses beginnt die neue Zeitrechnung an der Berliner Schaubühne. „Körper“ von Sasha Waltz gleicht einem Ritual der Reinigung. Bis auf den nackten Beton der Architektur wird die Bühne von allem entkleidet und die Theatermaschine zurückgefahren auf den Nullpunkt. Kein Vorhang, keine Kulissen, keine Illusion: Allein die Präsenz der Körper treibt die Imagination an.

Den „Körper“ an den Anfang zu stellen, beinhaltet ein Versprechen: Dass es ernst gemeint ist mit der Gleichberechtigung zwischen Tanz und Theater, die bisher an kaum einem anderen Haus praktiziert wird. So steht es im Manifest der Viererbande von Sasha Waltz, Thomas Ostermeier, Jens Hillje und Jochen Sandig, die seit Ende letzten Jahres die Intendanz der Schaubühne bilden. Dort weisen sie dem Tanz eine Rolle als sinnliches Instrument der Erkenntnis zu, das die Grenzen der Sprache und der rationalen Wissenschaften überwinden hilft. Als ein Ausrufezeichen für die Rückkehr zur Erfahrung und den gesuchten Kontakt zur Wirklichkeit markiert das Stück „Körper“ den Bruch mit abgelagerter Theaterliteratur.

Tanzstücke sind nirgendwo festgeschrieben. Sie entstehen in der Zusammenarbeit. Der Choreografin und ihren Tänzern den ersten Auftritt zu lassen, bedeutet auch, diese Produktionsform modellhaft zu begreifen für die Ensemblearbeit.

„Körper“ ist dieHommage an das Haus

Nie wirkte die Schaubühne so groß. Von den steilen Rängen blickt man wie in einer antiken Arena in ein tiefes Halbrund, das von einer dreigeschossigen Betonwand begrenzt wird. Das Theater, das 1927/28 nach Plänen von Erich Mendelsohn als Kino errichtet und 1978 bis 1981 für die Schaubühne umgebaut wurde, ist eine der wenigen Inkunabeln der klassischen Moderne in Berlin. Doch selten erfuhr man so pur die dramatische Expressivität seines konstruktiven Skeletts. Zirkus, Bärenzwinger, anatomisches Theater, Panoptikum und Kühlturm: Alles wird der Raum an diesem Abend. Diese bisher kaum genutzte Vielseitigkeit der Schaubühne war nicht zuletzt ein Grund für Sasha Waltz, von ihrem romantischen Domizil in den Sophiensaelen in Berlin Mitte an den Ku’damm zu wechseln. „Körper“ ist eine Hommage an das Haus.

Nur eine schwarze Wand steht in diesem Rund und in ihr ist ein Fenster eingebaut. In dem schmalen Hohlraum zwischen Glasscheibe und Rückwand fließen in einem der ersten Bilder die Körper der Tänzer zu einer amorphen, weichen Masse zusammen. Träge, fast schlafend, schieben sie sich von der Seite hinein und träufeln, rutschen von oben nach wie Kuchenteig. Haut quetscht sich am Glas entlang, Nase und Brüste werden plattgedrückt, Beine und Rumpf klein gefaltet wie Papier. Der ganze Raum scheint flach gedrückt zum Bild, das Lebendige wie eine Probe im Labor auf die Glasplatte gestrichen. Kaum glaubt man, dass sie noch Luft bekommen in diesem Kasten. Ein unheimliches Bild, das an Höllendarstellungen und Leichenberge erinnert. Und zugleich ein anrührendes Bild von unerwecktem, noch nicht ausgeformtem Leben, fast wie ein Blick in die Ursuppe. Da ist das Fleisch noch nicht in der Kultur angekommen.

Das ist ein Körpertheater, das über weite Strecken ohne Floskeln und ohne eine codierte Bewegungssprache auskommt. Tanz als abrufbare Form spielt keine Rolle. Der Körper wird vorgezeigt wie das Material und die Bedingungen, aus denen Kunst entsteht. Das ist Realismus im Sinne einer konkreten Kunst, die erst mal ihre Instrumente als das Wirkliche und Faßbare begreift.

Wie sich der gegenwärtige Blick auf den Körper verändert, demonstrieren Takako Suzuki und Sigal Zouk: Sie zeichnen mit roter Farbe Herz, Lungen, Nieren und Leber auf die Haut und nennen die Preise der Organe auf dem medizinischen Ersatzteilmarkt. 100.000 Deutschmark das Herz, 150.000 die Lungen. Andere Tänzer werden ausgewrungen wie einSchwamm, um den Wasseranteil im Körper zu demonstrieren, und an ihrer Haut gepackt und geschüttelt, wie sonst nur junge Hunde am Nackenfell. Man hätte allen Grund, hysterisch zu werden.

Aber Sasha Waltz treibt keinen Horror. Sie ist keine Terroristin, die den Schock bräuchte, um Anteilnahme zu erzeugen. Wo die Angst vor dem Verlust der Integrität des Körpers und die Verletzbarkeit des Menschen zum Thema werden, da setzt sie auch auf seine Stärke und die Kraft zur Wandlung. Der Körper ist nicht nur Fakt, sondern auch Phantasma. Daraus die surreale Logik ihrer Stücke zu entwickeln prägte die Kunst von Sasha Waltz von Anfang an.

So kommen kurz nach der Preisliste der Organe Fleisch gewordene Chimären auf die Bühne, die vorsichtig schwankend wie Genesende ihren eigenartig zusammengesetzten Körper ausprobieren. Ihre Zehen stehen verkehrt herum. Ihre Knie auch. Sie balancieren auf fremden Beinen. Doppelwesen wie die Kentauren blenden sie über das, was eben noch der Schrecken über die Körperpolitik der Gegenwart war, ein mythisches Bild. Das dann noch einmal umgewandelt wird in einen anatomischen Exkurs: Längs der Achsen ihrer Körper bilden Teller, die von den Händen der 13 Tänzer übereinandergehalten werden, klappernde, klackernde Wirbelsäulen.

Zu den Ängsten unserer Gesellschaft gehört, dass die Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit des Körpers verarmt durch eine technische Homogenisierung, die verschiedene Wirklichkeitsebenen und Erfahrungswelten einander immer mehr angleicht. Dagegen stemmt sich eine ganze Freizeitindustrie, die von der Suche nach der extremen Körpererfahrung im Bungee-Jumping bis zu Fitness- und Wellness-Centern reicht. Es gehört zur neuen Strategie der Schaubühne, dort gezielt zu werben und gegen Vorlage eines Mitgliedsausweises ermäßigten Eintritt zu „Körper“ zu gewähren. Geplant hat das die Theaterpädagogin Ute Plate, zuständig für die Motivation eines bisher eher theaterfremden Publikums.

Da sieht man dann in einem Panoptikum der Vereinzelung zum Beispiel einen Skifahrer, der senkrecht eine Wand hinunterfährt. Ein anderer zerschmeißt Teller, weil es so schön kracht. Wie man sich effektiv und schnell zu Tode raucht, demonstriert Davide Camplani mit dem Kopf in einem Aquarium. Irgendjemand, von dem nur die nackten Beine hervorragen, kraucht unter den Bodenplatten entlang. Einer erzählt von seiner Angst vor dem Krebs. Mehr, als man erfassen könnte, passiert gleichzeitig. Jeder ist mit sich allein in diesem Theater des Manischen. Die Musik von Hans Peter Kuhn führt uns dabei durch industrielle Klangräume.

Vermessen des Raums nach Körperlängen

Diesem Zerfall in absurde Einzelaktionen hält „Körper“ immer wieder das Zusammenfließen der Gruppe zu einem lebendigen Gebilde entgegen, das nicht hierarchisch geordnet ist. Sie fädeln sich auf zur langen Kette, die den Bühnenraum umschließt. Sie stapeln ihre Körper übereinander und bauen einen Schutzwall. Sie testen nahgerückt das Minimum aus, das jeder braucht, um sich drehen zu können. Sie vermessen den Raum nach Körperlängen. Sie geigen auf den wie Saiten ausgespannten Zöpfen von Nadia Cusimano ein Konzert von Mozart.

Fast möchte man diese Variationen auf die Möglichkeiten, wie viele ganz unterschiedliche Summen ihrer Teile bilden können, als utopisches Modell und Bekenntnis zum kollektiven Prinzip der Schaubühne sehen. Die Schaubühne wagt es unter der neuen Leitung noch einmal, mit Vollversammlung und Mitbestimmung ein Modell auszuprobieren, das man beinahe schon unter Vergangenheit abgelegt hatte.

Ihr Ansatz, als ersten Schritt der Repolitisierung des Theaters demokratische Strukturen in der eigenen Arbeit zu versuchen, überrascht. Denn über jener Generation, die das vor dreißig Jahren auf ihr Programm geschrieben hatte, wurde zuletzt nur noch Häme ausgegossen. Auch wenn es im vollmundigen Vorgeplänkel zwischen den Theatermachern der Stadt, die in dieser Saison neu gegeneinander antreten, gerne so dargestellt wurde: Einen Generationskonflikt braucht die Schaubühne nicht als Antrieb.

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