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Die Kunst des Aufschlitzens

Gary Simpson ist Berlins einziger Narbenmacher. Moderner Haut- und Körperschmuck oder ein Akt der Selbstzerstümmelung?  ■ Von Kirsten Niemann

In Hängo's Tätowierstudio ist die Hölle los. Gerade läßt sich ein todesmutiges Mädel, das die 16 wohl kaum überschritten haben dürfte, einen Knopf durch den Bauchnabel jagen. Eine weitere Kundin wartet darauf, daß man ihr den aufgegangenen Augenbrauenring wieder einsetzt, den sie sich vor kurzem erst hat verpassen lassen. Vom vielen Selber-Herumfummeln vor dem Spiegel hat sich das ursprünglich winzige Loch mittlerweile in eine Wunde mittlerer Größe verwandelt. Eine weitere, im Gegensatz zu den vorherigen eher gediegen aussehende Dame in den mittleren Jahren sucht derweil sorgfältig ein Motiv für ihr erstes Tattoo aus – aller Wahrscheinlichkeit nach wird ein circa daumengroßer Pinguin das Rennen machen.

Jede Neuköllner Friseuse trägt heutzutage Metall in der Nase, und selbst die von einem Zungenpiercing herrührende feuchte Aussprache des Berliner Modemachers Frank Schütte gilt in einschlägigen Kreisen als cool. „Und wenn dich vor zehn Jahren einer mit 'ner Tätowierung gesehen hat, dann fragten se dich, wie lange du im Knast warst – heute fragen se dich, bei wem warste gewesen!“ Für Hängo, der Inhaber eines Tattooladens und gleichzeitig Präsident des ersten deutschen Tätowierervereins „D.O.T.“ (Deutsche organisierte Tätowierervereinigung) ist, bedeuten diese neumodischen Schönheitsideale den gesicherten Broterwerb. „Von Selbstverstümmelung kann gar keine Rede sein – schließlich kann man sich die Knöppe und Ringe ja wieder rausnehmen, wenn die Mode wieder vorbei ist.“

Tätowierungen und Piercings, soviel steht für ihn fest, sind nichts weiter als moderner Haut- und Körperschmuck. Anders sieht es jedoch bei anderen Formen der „Körperbeeinflussung“ aus, wie z.B. Branding (dem Einbrennen bestimmter Motive in die Haut) und Scarifications (Ornamente, die durch Aufschlitzen der Haut entstehen). Heute noch fristen die Narbenmacher auf den internationalen Tattoo-Conventions ein Outlaw-Dasein, doch ist vielleicht in wenigen Jahren nach der Devise „anders sein um jeden Preis“ schon mit einer Invasion von Narben- Johnnies zu rechnen? Tattoo-Meister Hängos bündiger Kommentar dazu: „Die so was machen, die spinnen!“

Gary Simpson, ein gebürtiger Londoner, der seit gut einem Jahr das Tattoo- und Piercing-Studio „B 52's“ betreibt, beschreibt Scarification und Branding als eine besondere Kunstform, deren Ergebnisse mit denen von Tätowierung und Piercing vergleichbar sind. Allerdings mit dem Unterschied, daß lediglich Buchstaben-, Zahlen- oder einfache lineare „Tribal“- Elemente möglich sind. Während Branding in den meisten Ländern als Körperverletzung mit empfindlichen Strafen geahndet wird, ist Scarification legal und wird vom Gesetz mit Tätowierungen gleichgesetzt. Das Prozedere ist dagegen weit aufwendiger als eine Tätowierung und vor allem nicht ganz ungefährlich, da es sich dabei im Grunde genommen um einen operativen Eingriff handelt, der medizinische Kenntnisse voraussetzt. Es gibt dabei mindestens ebenso viele Methoden der Scarification, wie es Betreiber gibt; doch wird stets mit einem Skalpell gearbeitet, das die Haut in feine Linien schlitzt. Am Ende dieser blutigen Prozedur wird – vor allem bei weißer Hautfarbe – eine Lösung injiziert, welche die Farbgebung und Wölbung der späteren Narbe bestimmt. Die Zusammensetzung der jeweiligen Lösung ist, natürlich, ein Betriebsgeheimnis.

Simpson, der einzige Narbenmacher Berlins, gibt offen zu, daß er über die Ergebnisse seiner Arbeit nicht immer glücklich ist. „Es ist riskant, weil du vorher niemals wissen kannst, wie die Narbe verheilt. Manche Narben heilen völlig ungleichmäßig.“ Und das sieht dann scheiße aus. Man denke nur an die stümperhafte Hakenkreuznarbe auf der Stirn von Charles Manson. Zum Selbstversuch sind solche Geschichten also denkbar ungeeignet.

Simpson, der am Londoner College of Art Malerei studiert hat, bevor er vor 15 Jahren als Tätowierer und Narbenmacher auf seine Kundschaft los ging, hat die „Kunst“ des Vernarbens in Schwarzafrika gelernt. Dort haben die Male in der Regel jedoch eher die Bedeutung eines Initiationsritus oder einer symbolisch bildhaft gemachten ethnischen Stammeszugehörigkeit. Im Gegensatz dazu dient diese Form des Körperschmucks in unseren Regionen als bewußtes Mittel zur Abgrenzung vom „Normalen“. Hier verspricht man sich davon mehr Individualität und vielleicht ... Jedenfalls gibt es hier ein altbekanntes Sprichwort, das besagt, „wer schön sein will, muß leiden.“

Der 42jährige Simpson hat keinerlei Kunstnarben am eigenen Leib. Bis auf ein halbes Dutzend Ohrringe wirkt sein Körper auf den ersten Blick eher unbehandelt. Lediglich auf seinem Bauch schwingt sich nach stolzem liften des T-Shirts ein großes Tattoo, auf dem in gotischen Lettern die Worte „Needle Gangsta“ zu lesen sind. Und was seine Kunden dazu treibt, sich jene Scars beibringen zu lassen, kann er sich ebenfalls nicht erklären. „Doch wenn einer kommt und so etwas haben möchte, dann mache ich ihm das. Weil ich es kann.“ Daß sich Scarification vom Kuriosum zum neuen Trend 2000 mausern könnte, vermag er sich heute jedoch noch nicht vorzustellen, sind es bislang doch mal gerade drei Berliner, die sich das bei ihm haben machen lassen. Als er jedoch vor wenigen Tagen von einem Fernsehteam behelligt wurde, eine Scarification vor laufender Kamera durchzuführen, lehnte er schlichtweg ab. Man hat schließlich ein Berufsethos. Ganz ähnlich wie Tätowiermeister Hängo, der von sich sagt: „Niemals mache ich eine Tätowierung im Gesicht oder auf den Händen.“ Und das macht Gary Simpson übrigens auch nicht.

Simpson ist zu finden im B 52's: Bülowstraße 52 in Schöneberg; Hängo in Hängo's Tätowierstudio: Mierendorffstraße 32, Charlottenburg.

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