Die Krim nach der Annexion: Tristesse und Putinkult
Lange Schlangen, kaum Touristen: Acht Monate nach dem Anschluss an Russland ist die Euphorie auf der Krim verflogen. Es regiert Argwohn.
SIMFEROPOL/JALTA/SUDAK taz | Wiktor Petrowitsch ist ein schon älterer Herr. Für sein Alter ist der 67-jährige Rentner nicht nur rüstig, er ist auch noch ziemlich unternehmungslustig. Kurz entschlossen flog er im Mai ins Tausende Kilometer entfernte Moskau und machte sich von dort per Bahn auf ins neue gelobte Land – nach Noworossija –, den Streifen im Südosten der Ukraine, den der Kreml dem Nachbarn entreißen möchte.
In Donezk schloss sich der Rentner den prorussischen Aufständischen an. Er könne es nicht ertragen, wenn an russischen Frauen und Kindern Gräueltaten begangen würden, sagt Petrowitsch der Presse in Simferopol, der Hauptstadt der Krim. Der Haudegen wird gern herumgereicht. Auf der Halbinsel ist das postheroische Zeitalter noch nicht angebrochen.
Petrowitsch stammt aus einem Dorf an der chinesischen Grenze im russischen Fernen Osten. Vor der Familie hielt er den Ruf zu den Waffen natürlich geheim. Unbedingt wollte er die Heimat vor vorrückenden Faschisten verteidigen. Wiktor Petrowitsch glaubt an das, was Russlands Fernsehen über die faschistische Bedrohung aus dem Westen behauptet.
Bei einem längeren Kampfeinsatz zog er sich schwere Prellungen zu und wurde zur Behandlung auf die Krim verlegt. Zum ersten Mal im Leben war der „Schütze aus dem Fernen Osten“ – wie ihn die Lokalpresse nennt, auf der Halbinsel im Schwarzen Meer. Jetzt ist Petrowitsch wieder genesen, trägt den Orden „Held Neurusslands“ auf der Brust, und alles wäre gut, gäbe es da nicht noch das Problem mit dem Rückflugticket. Auch Helden müssen bezahlen.
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Wie viele Verwundete auf der Krim behandelt werden, ist ein Geheimnis. Auch die Zahl der Flüchtlinge ist unbekannt. Alles wird streng unter Verschluss gehalten. Vor dem Hotel Artek im Zentrum Simferopols patrouillieren Männer in schwarzem Outfit. Wer keinen „Propusk“, einen Passierschein, besitzt, den lassen sie nicht hinein, die Männer, die der paramilitärischen Bürgerwehr „Samooborona“ angehören. Sie haben schon an der Seite der russischen Armee im März die Annexion der Krim unterstützt. Die Regierung in Simferopol will sie dafür belohnen und ab Januar 2015 in den Stand legaler Ordnungshüter befördern.
Freischärler hinter Glas
Hinter der riesigen einsehbaren Glasfront des Hotels tun sich seltsame Dinge. In der Lobby liegen Dutzende Menschen auf zusammengeschobenen Tischen. Notdürftig haben sie sich mit Mänteln und Handtüchern zugedeckt. Daneben stehen Tüten, Taschen und Koffer. Das Hotel sei mit Verwundeten überbelegt, meinen Menschenrechtler. Daher müssten Flüchtlinge in der Hotelhalle übernachten. Kräftige junge Männer unterhalten sich unterdessen an einer provisorischen Rezeption mitten in der Eingangshalle. „Artek“, stellt sich heraus, ist nicht nur Anlaufstelle für Flüchtlinge, sondern auch Aushebungsbüro. Von hier aus brechen Freischärler in die Kampfgebiete von Donezk und Luhansk auf.
Die Krim hat etwas Konservierendes, Schwerfälliges. Nichts Leichtfüßiges, Südliches. Die Menschen wirken zugeknöpft und missmutig. Für einen Ort, der Fremde locken soll, keine leichte Hypothek. „Mit offenen Armen hat der Krimbewohner Touristen auch früher nicht empfangen“, meint eine ältere Frau aus der Reisebranche. Ob im Sanatorium oder im Ferienlager, Kur und Körperertüchtigung hatten immer auch etwas von einem militärischen Auftrag.
Die Krim feiert Wladimir Putin als Erlöser. Endlich. Nach 60 Jahren befreite er die von KP-Chef Nikita Chruschtschow 1954 an die Ukraine verschenkten Seelen vom Kiewer Joch. Aber was ist es nur? Warum können die Befreiten nicht lächeln? Nachhaltig zumindest nicht. Auf der Krim hat sich das mürrische sowjetische Lebensgefühl anscheinend eingenistet. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schrieb die Ukraine dem Homo sovieticus nicht vor, wieder Russe, Ukrainer oder sonst wer zu werden. Kiews Desinteresse überließ es jedem Einzelnen, nach seiner Fasson glücklich zu werden.
Geburtsurkunden, Führerscheine, Pässe
Die Euphorie des Anschlusses ist nicht verflogen. Die Zustände sind aber auch noch nicht paradiesisch, meint Tatjana Kupzowa, die zum dritten Mal diese Woche beim Föderalen Migrationsdienst vorspricht. Die Behörde stellt die neuen russischen Pässe aus, ohne die das Leben stillsteht. Die junge dunkelhaarige Frau hielt das Dokument schon in den Händen, nur stimmten die Daten nicht. Die bürokratischen Hilfstrupps vom russischen Festland hatten in der Eile das Geschlecht verwechselt. Jetzt geht die Tortur von vorne los. „Wieder drei Monate warten“ fürchtet Tatjana. Pässe und Papiere bereiten den meisten Krimbewohnern Kopfzerbrechen. Auch Führerscheine und Geburtsurkunden werden neu ausgestellt.
Wie schon in der UdSSR ist das Schlangestehen auf der Krim zum Zeichen der neuen Zeit geworden. Kaum einer, der über die Anpassungsschwierigkeiten nicht eine Geschichte erzählen könnte. Von dem Gastarbeiter aus Zentralasien etwa, der die russische Einreisekarte nicht hat, weil die Ukraine bei der Einreise schlicht keine Karten ausgab. Jetzt gilt die Einreise als illegal, obwohl nicht der Reisende nach Russland, sondern Russland zu ihm gekommen ist. Heikle Fälle, die je nach Beamten sehr unterschiedlich gelöst werden können.
Bislang machen nur die Tataren ihrem Unmut Luft. Sie waren von Anfang an gegen die Annexion. Moskau hat ihnen in der Geschichte übel mitgespielt. Die russischstämmigen Krimbewohner zeigen eher Gleichmut. „Seit wir wieder zu Russland gehören, ist es weder besser noch schlechter geworden“, meint Lena, die vor Jahren aus dem ukrainischen Poltawa auf die Krim zog. Eigentlich ist die gemütliche Verkäuferin von Telefonkarten in Jalta ein typisches Sowjetgeschöpf – in Lettland geboren, hat sie in der Ukraine die Jugend verbracht. „Und jetzt wieder in Russland!“, sagt sie stolz. Am besten wäre, wenn auch die Ukraine wieder zu Russland käme, meint die 35-Jährige. Sie sehe das pragmatisch und „von der menschlichen Seite“. Das Imperium sei ihr egal. Lena hat mit Russland Geduld. „Irgendwann wird es schon besser werden.“
Aggressive Pandabären
An der Promenade von Jalta ist auch im Spätherbst am Wochenende noch ein wenig Betrieb. Die McDonald’s-Filiale im Hafen ist verwaist, seit die Fastfoodkette gleich nach der Besetzung alle Niederlassungen schloss. Am Gebäude des Anlegers bröckelt der Anstrich der aufgetragenen ukrainischen Fahne. Und vor dem Hafenbecken wartet das „Labyrinth der Illusionen“, ein Spiegelkabinett, auf Besucher. Niemand kommt. Mit Illusionen sind Russland und die Krim gut versorgt. Auch zwei gewaltige, als Pandabären verkleidete Darsteller wollen noch auf den Tagesschnitt kommen. Wer nicht kuscheln möchte, wird angerempelt. Doch niemand lässt sich in der Umarmung eines aggressiven Pandas fotografieren.
Der Cafégarten im besten Hotel am Platz ist geschlossen. Offiziell wird die Saison vom Tourismusministerium als Erfolg gewertet. Von den sonst rund 6 Millionen Besuchern soll auch in diesem Jahr ein Drittel gekommen sein, zwar keine Ukrainer, dafür aber umso mehr Russen, für die ein Krimbesuch zum patriotischen Auftrag wurde.
Hotelinhaber und Imbissbesitzer reagieren jedoch verhalten. Ein Drittel der Besucher vom Vorjahr, das sei viel zu hoch gegriffen, meint ein Inhaber. Auch in Sudak, weiter östlich, wo sich früher Touristen um eine Handtuchbreite Steinstrand balgten, herrscht Katerstimmung. Der rote Krimsekt, der in der Kellerei der „Neuen Welt“ – des Nowij Swet – bei Sudak über Jahre reift, fließt auch nicht mehr wie im Vorjahr. Die Hälfte des Absatzes ist weggebrochen. Nun sucht die Kellerei nach einem neuen Investor. Freude über den Anschluss und Hoffnungen auf die nächste Saison lindern die Enttäuschung über die schlechte Ertragslage der Branche. Doch ob es nächstes Jahr besser wird, steht in den Sternen.
Der Russe will umworben werden
Die Hälfte der russischen Touristen in dieser Saison gab bei einer Umfrage des Ministeriums an, nicht noch einmal auf der Krim Urlaub machen zu wollen. „Sauberkeit, freundliche Bedienung, Service und die günstigen Preise in der Türkei und Ägypten haben die Russen verwöhnt“, sagt eine Reisebüroleiterin. Der Russe aus dem Mutterland will umworben werden. Es sei denn, Wladimir Putin lässt den Eisernen Vorhang wieder herunter und schließt die Grenze zur Türkei.
Wer Putin im Angebot führte, hatte aber auch in diesem Sommer ausgesorgt. T-Shirt-Verkäuferin Ludmila, eine feurige Blonde, hat keinen Grund zur Klage. Ihre Stimme zittert, wenn sie von ihrer Ware spricht. Putins klare Botschaften, auf T-Shirts gedruckt – ob mit ihm als Judoka, der Präsident Obama in die Knie zwingt, als Schutzpatron der Besatzungstruppen oder auch als Triumphator, der über die Sanktionen lacht –, finden reißenden Absatz. Neu hinzu kam ein Bikini, dessen knappes Oberteil auch der Präsident schmückt. Putin als Beschützer oder als Animateur? Oder wie im wahren Leben Brandstifter und Feuerwehrmann zugleich? Doch in dieser Angelegenheit versteht Ludmila keinen Spaß.
Sie glaubt an Putin, Russland und die Zukunft. Und daran, dass die Versprechen eines Tages in Erfüllung gehen. Im Frühjahr noch sollte die Krim Russlands neues Megaprojekt werden. Doch Projekte kommen und gehen – wie die Völker, die seit Jahrtausenden die Krim alle schon als Besitz beansprucht haben.
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