: Die Gretchenfrage
Bereits 1988 entstand am Berliner Spreeufer das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz – also lange Zeit bevor es Google, Amazon und Meta gab. Warum nur wurde das einflussreiche KI-Programm ChatGPT dennoch in den USA entwickelt?

Von Hannes Koch
Donald Trump steht und hebt die Faust, nachdem er den Mordanschlag im Juli 2024 knapp überlebt hat. Die Leibwächter drumherum machen amüsierte Gesichter. Ist dieses Foto wahr oder gefälscht? Ein KI-Programm findet es schnell heraus. In diesem Fall stammt die Künstliche-Intelligenz-Software aus Deutschland – und mal nicht aus den USA oder China.
Um die Frage zu beantworten, sucht das Programm zum Beispiel weitere Fotos vom Attentat im Internet, vergleicht sie, prüft die Aufnahme-, Bearbeitungsdaten, Quellen und präsentiert die Ergebnisse auf einer übersichtlichen Seite. Das ist eine große Hilfe für Journalist:innen, die schnell die Echtheit von Fotos kontrollieren müssen. Das Ergebnis lautet „Fake“. Denn auf diesem Foto wurden die freudigen Gesichter manipuliert und Personen hinzugefügt, die tatsächlich nicht da waren.
Gretchen AI (Artificial Intelligence) heißt die Firma, die das Programm entwickelt. Inspiriert von Goethes Faust soll es Gretchenfragen beantworten wie „Lüge oder Wirklichkeit?“ Dafür stellt Sprind, die Bundesagentur für Sprunginnovationen, bis zu 700.000 Euro Fördermittel zur Verfügung. Das Rechercheprodukt zur Aufdeckung von schwer zu erkennenden Desinformationen – sogenannten Deepfakes – basiert auf längerer Zusammenarbeit mit der Deutschen Presseagentur. Ende diesen Jahres soll es wohl marktreif sein.
„Aber unsere Technik kann man auch für weitere Zwecke verwenden“, sagt Co-Gründer Tim Polzehl. „Schließlich geht es grundsätzlich um das Finden und Verifizieren von Texten, Fotos, Tönen und anderen Medieninhalten.“ Gelingt es zum Beispiel dem Kunden eines Internetanbieters nicht, seinen neuen Rooter anzuschließen, könnte die jeweilige Firmen-Hotline anhand eines hochgeladenen Fotos automatisiert feststellen, dass das Datenkabel in der falschen Buchse steckt. Mit solchen und anderen Anwendungen will Gretchen AI von 2026 an am Markt Geld verdienen.
Komplett selbst ausgedacht hat sich die Firma ihr Programm nicht. Es ist abgeleitet von sogenannten Großen Sprachmodellen aus den USA, die ähnlich wie ChatGPT selbstständig sinnvolle Texte produzieren können. Auf dieser Grundlage entstand mittels einer speziell trainierten Datenarchitektur ein kleineres Expertenmodell, wie Daniel Röder erklärt, ein anderer Co-Gründer des Berliner Start-ups. Damit stellen sich weitere Gretchenfragen: Warum kommen die Großen Sprachmodelle aus den USA oder China, nicht aber aus Europa? Angesichts der wirtschaftlichen und politischen Neuaufteilung der Welt könnte es durchaus Vorteile für die ökonomische Unabhängigkeit und die technologische Souveränität des Kontinents bieten, wenn hier eigene Modelle entwickelt würden.
Bei der Suche nach Antworten hilft das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz mit seiner Niederlassung am Berliner Spreeufer weiter. Das DFKI, an dem etwa 1.500 Forschende überwiegend mit öffentlichen Mitteln arbeiten, wurde schon 1988 gegründet. Damit waren die Deutschen bei dem Thema eigentlich früh dran. Die heutigen Hard- und Softwareriesen Microsoft und Apple waren noch klein, Google, Amazon und Facebook gab es gar nicht.
Als Expertin für maschinelles Lernen braucht DFKI-Forscherin Vera Schmidt bei ihrer Arbeit immer wieder extrem leistungsstarke Computer. Deshalb kooperiert sie oft mit dem ebenfalls vorwiegend staatlich finanzierten Forschungszentrum Jülich. „Dort muss man die Nutzung von Rechenleistung allerdings beantragen“, berichtet Schmidt. Die Nutzungszeiten sind beschränkt. Klappt irgendetwas nicht, kann es beim neuen Antrag zu Wartezeiten kommen. Das Rechenzentrum Jülich ist technisch zwar auf modernstem Stand, seine Rechenkapazität aber oft ausgebucht, weil es so viele Forschende nutzen wollen.
Um bei der Künstlichen Intelligenz mithalten zu können, mangelt es in Deutschland also anscheinend an Rechenkapazität, nicht nur in den teilweise öffentlich bezahlten Einrichtungen. Auch die Datenzentren von Unternehmen weisen eine deutlich geringere Rechenleistung auf, als sie Forschenden und Entwickler:innen in den USA und China zur Verfügung steht.
Der Grund dafür? „Hierzulande fehlt es oft an Kapital“, sagt Andreas Schepers, Sprecher des DFKI in Berlin. Bevor ein Unternehmen ein Programm wie ChatGPT auf die Welt loslässt, sind Milliarden US-Dollar in Entwicklung, Rechnerleistung und Datentraining geflossen. Diese großen Summen investieren Kapitalgeber in den USA offenbar eher als Finanziers in Europa. Hier reichen die Mittel nur für kleinere Modelle und Programme, die Spezialaufgaben erledigen – wie etwa die Deepfake-Erkennung von Gretchen.
Jörg Bienert, Vorstand des KI-Bundesverbands, teilt die Analyse. „In den USA stehen KI-Unternehmen mehr Kapital und Rechnerleistung zur Verfügung.“ Seiner Einschätzung nach „hat das teilweise mit der mangelnden Risikobereitschaft europäischer Investoren zu tun“. In dieser Lesart sind US-Firmen und Geldgeber bereit, größere Summen lockerzumachen, selbst wenn das Risiko des Verlusts nicht von der Hand zu weisen ist. Gedeckt wird die Einschätzung durch eine Untersuchung der Unternehmensberatung EY von 2024, derzufolge die Forschungs- und Entwicklungsausgaben großer US-Aktiengesellschaften deutlich über denen entsprechender EU-Firmen liegen.
Jörg Bienert, KI-Bundesverband
Trotz des Rückstandes gegenüber den USA und neuerdings auch China arbeiten hierzulande aber Hunderte, wahrscheinlich Tausende kleine und mittlere Unternehmen, die von modernen KI-Produkten gut leben. Zum Beispiel die Merantix Gruppe in Berlin, die unter anderem als Investor, Entwickler und Beratungsfirma agiert. In der weitläufigen Besprechungsetage, wo sich die Sitzgruppen zwischen großen grünen Pflanzeninseln verstecken, erklärt Medizininformatiker Thomas Wollmann ein Beispielprojekt. Für das Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim entwickelte Merantix ein KI-Programm, das stundenlange Tiervideos auf das Verhalten von Mäusen hin analysiert, denen Wirkstoffe für neue Arzneimittel verabreicht wurden. „Der KI-Algorithmus kann manche Aufgaben schnell und gut erledigen und den Menschen massiv unterstützen“, sagt Wollmann. Für ihn zeigt das gleichzeitig, wie europäische Unternehmen mit KI umgehen. Sie interessierten sich besonders für „spezielle Endanwendungen, und nicht nur für breite Grundlagentechnologien“.
KI-Verbandsvorstand Bienert, der auch Partner bei der Merantix-Tochter Momentum ist, betrachtet eine solche Haltung allerdings skeptisch. „Dass europäische Unternehmen keine großen KI-Modelle entwerfen, aber mit Spezialanwendungen Geld verdienen wollen, halte ich für eine Ausrede und einen Fehler.“ Denn die großen Modelle seien „die Basis für die nächsten Schritte, etwa die humanoide Robotik“ – Maschinen, die menschliche Bewegungen und Verhaltensweisen kopieren. „Europa braucht so etwas wie ein Airbus-Projekt für die KI“, fordert Bienert.
Das europäische Airbus-Konsortium ist neben US-Konkurrent Boeing der führende Flugzeugbauer weltweit. Vielleicht hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auch dieses Vorbild im Kopf, als sie im Februar 2025 den neuen Fonds für sogenannte KI-Gigafabriken in Höhe von 20 Milliarden Euro ankündigte. Ein solches extrem leistungsstarkes Rechenzentrum geht demnächst in Jülich in Betrieb – die „Jupiter“ genannte KI-Fabrik. Viele Forscher:innen hoffen darauf, dass sich die Knappheit an Rechenkapazität damit zumindest vorläufig verringert.
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