Die Frage nach dem Kindeswohl: Eine schrecklich nette Familie
Den Haushalt nennt der Betreuer „extrem verwahrlost“. Aber die Eltern lieben ihre fünf Kinder und die Kinder ihre Eltern. Soll das Jugendamt sie dennoch trennen?
Die Sonne hat es schwer bei den Melzigs. Die Fenster sind verschmiert, die Jalousien heruntergelassen und Bernd Melzig sitzt in einer Wolke aus Zigarettenrauch. Er reibt sich die Augen.
„Schlecht geschlafen“, sagt er. Heute Nacht sei sein dreijähriger Sohn Manni zu ihm aufs Sofa gekrochen. „Er hat mir seine Kackwindel ins Gesicht geschmiert.“ Bernd Melzig, 39, ein gealterter Junge mit Falten um den Mund, grinst schief. „Danach konnte ich nicht mehr einschlafen. Aber ich habe seinen Schlaf bewacht.“
Jetzt sitzt Manni auf dem Schoß des Vaters, sein Kopf liegt in der Armbeuge. Bernd Melzig wiegt ihn, beugt sich nach unten und küsst Manni auf die Backe.
„Na du, mein kleines Baby? Vielleicht war der Horrorfilm doch nichts für dich?“
„Was?“ Die Familienhelferin, die gerade zu Besuch ist, dreht sich um.
„Ich hab gestern The Hole angeschaut. Ein super Film. Aber Manni wollte immer mitschauen. Der versteht das ja noch nicht. Das ist eher so ein Psychothriller, den muss man kapieren.“
Essen aus Mülltonnen
Manni ist das kleinste der Melzig-Kinder. Er hat drei Brüder und eine Schwester, die Kinder sind 5, 8, 13 und 15 Jahre alt. Die Familie hat Ärger mit dem Jugendamt seit Jessy, die Älteste, noch ein Kleinkind war. Damals klaute sie nachts mit ihren Eltern Essen aus den Mülltonnen der Nachbarn.
Sebastian Hardenstein, der zuständige Sachbearbeiter des Jugendamtes, nennt den Ort, an dem die Kinder leben, einen „extrem verwahrlosten Haushalt". Die Melzigs leben in einer Kleinstadt, in der die Menschen ihre Nachbarn kennen, deshalb sind alle Namen geändert, und auch die Stadt darf nicht genannt werden.
Dass die Kinder bei ihren Eltern aufwachsen dürfen, obwohl alles dagegen sprach, haben sie dem Jugendamtsmitarbeiter Hardenstein zu verdanken. Oder: Er ist schuld daran. Das kommt auf den Blickwinkel an.
Familienhilfe statt Heim
Hardenstein ringt oft mit seiner Entscheidung. Im Herbst des vergangenen Jahres, als ihn Lehrer anriefen und sagten, man würde die Kinder kaum noch im Unterricht sehen und sie bekämen nur noch selten Mahlzeiten, da hatte er schon entschieden, dass sie in ein Heim müssen. Als es wieder besser lief, entschied er sich dagegen, installierte ein Netz von Familienhilfe, 30 Stunden in der Woche, 43.200 Euro im Jahr. Heimplätze für die Kinder würden etwa 270.000 Euro jährlich kosten.
Es gibt Kindernamen, die Verantwortlichen wie Sebastian Hardenstein Angst machen. Chantal zum Beispiel oder Kevin. Im März 2005 erstickt in Hamburg die siebenjährige Jessica, halb verhungert, an ihrem Erbrochenen. Im Oktober 2006 finden Mitarbeiter des Jugendamtes Bremen die Leiche des zweijährigen Kevin im Kühlschrank.
Hardenstein hätte rechtlich die Möglichkeit, die Melzig-Kinder aus der Familie zu nehmen. Mit oder gegen die Zustimmung der Eltern. Nur: Ist das richtig? Er muss eine Balance finden: Wenn den Kindern etwas passieren sollte, wäre er der Sündenbock. Wenn er sie vorschnell aus der Familie nimmt, wäre er das auch.
Die ganze Geschichte und viele weitere spannende Texte lesen Sie in der sonntaz vom 15./16. September 2012. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.
38500 Inobhutnahmen gab es im Jahr 2011. Das sind 36 Prozent mehr als noch vor fünf Jahren. In Obhut nehmen: Das bedeutet, dass das Jugendamt die Kinder kurzfristig aus der Familie nimmt. Über 40 Prozent kehrten danach zu ihren Eltern zurück. Rund ein Viertel der Kinder leben dauerhaft in ein Heim oder eine Pflegefamilie.
Sebastian Hardenstein hat soviel Geduld mit den Melzigs, weil die Kinder mit ihren Eltern leben möchten und die Eltern mit ihren Kindern. Die Beziehungen sind intakt.
„Ich hätte Heimweh"
„Ich hasse das Internat. Ich wäre viel lieber in meiner Familie geblieben", sagt Jessy. „Ich würde sofort abhauen, wenn mich jemand in ein Heim stecken würde", sagt Timm. „Ich hätte Heimweh", sagt Patrick.
Bernd Melzig sagt: „Wir sind bestimmt keine guten Eltern. Aber wir lieben unsere Kinder."
Eine unschätzbare Ressource nennt Sebastian Hardenstein vom Jugendamt die Liebe. Aber wenn die Kinder kotzen, weil der Heringssalat seit Monaten abgelaufen ist oder die ganze Wohnung nach Verwesung riecht, weil jemand vor Monaten unbemerkt den Stecker zur Gefriertruhe gezogen hat, dann fragt sich Hardenstein, ob Liebe ausreicht.
Was der Jungendamtsmitarbeiter Hardenstein tut, als die Lage bei den Melzigs eskaliert, wie Familienhilfe zur Unselbstständigkeit beitragen kann, wie die Melzig-Eltern selbst im Heim aufwuchsen und wie Hardenstein verhindern will, dass sich der Kreislauf bei ihren Kindern wiederholt, lesen Sie in der Ganzen Geschichte „Eine schrecklich nette Familie“ in der sonntaz vom 15./16. September. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz
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