Die Flusslandschaften der Elbe: Deutsches Amazonien
Mehr als tausend Kilometer durchfließt die Elbe das Land. Zu ikonografischen Landschaften haben es nur die Sächsische Schweiz und das Altonaer Elbufer gebracht.
Die wohl bizarrste Felsenformation im Elbsandsteingebirge ist das Prebischtor nördlich von Hrensko/Herrnskretschen. Dieser größte Felsenbogen aus Sandstein in Europa hat von jeher die Maler, Wanderer und Empfindsamen angezogen. Bereits 1837 fand es Einzug in einen Reiseführer mit dem Titel „Das malerische und romantische Deutschland“ – mit einem Beitrag über die Sächsische Schweiz.
Der Blick auf malerische und romantische Naturschönheiten ist wie das Reisen zum Zwecke seiner selbst eine Erfindung des 18. Jahrhunderts. Auf der „Grand Tour“ nach Italien entdeckten britische Adlige auch Deutschland und seine Flüsse, allen voran den romantischen Rhein. Freilich war diese Entdeckung eher unbeabsichtigt. Wegen der Revolution war die Route über Frankreich gefährlich geworden.
Fast zur gleichen Zeit wurde an der Elbe die Sächsische Schweiz entdeckt. Die Entdecker kamen allerdings nicht aus England, sondern aus der Schweiz. Adrian Zingg aus Sankt Gallen war Maler und wurde 1764 als Kupferstecher an die Dresdener Akademie berufen. Als ob die sächsische Metropole unter August III. nicht genügend Motive geboten hätte, unternahm Zingg immer wieder Ausflüge entlang der Elbe in diese sonderbare Landschaft mit ihren pittoresken Felsen und tief eingeschnittenen Tälern. Gleiches galt für Anton Graff aus Winterthur, einen Porträtmaler, der ebenfalls in Dresden lehrte.
1783 nannte Zingg die Landschaft erstmals Sächsische Schweiz. Das wissen wir vom Schandauer Pfarrer Wilhelm Leberecht Götzinger, der sich drei Jahre später – nicht ohne eine gewisse Rückversicherung – ebenfalls für diesen Namen verwandte: „Alle Schweizer, welche die hiesige Gegend besucht haben, versichern, dass sie mit den Schweizer Gegenden sehr viel Ähnlichkeit haben.“
Pirnisches Sandgebirge
Dieses touristische Branding des 18. Jahrhunderts hatte Folgen. Zuvor hatte man die Gegend vor den Toren Dresdens einfach nur „Meißner Hochland“ genannt, „Pirnisches Sandgebirge“oder „Heide über Schandau“. Wer es noch ungefährer liebte, ordnete die Felsenlandschaft gleich den „Böhmischen Wäldern“ zu.
Nun aber waren ein Vergleich und ein Begriff zur Hand, die die Landschaft aus dem größeren Zusammenhang der Wälder und des Hochlandes herauslösten und sie, unter ästhetischen Gesichtspunkten, neu definierten. Das Repertoire war fortan umrissen, schreibt die Landschaftsplanerin Antonia Dinnebier: „Das Material zum Bild der Sächsischen Schweiz entstammt der Topographie und besteht aus dem Elbtal und vielgestaltigen Felsformationen. Linkselbisch prägen die weiten Ebenheiten und hoch aufragende Tafelberge das Landschaftsbild. Rechtselbisch sind bizarre Felsen und tiefe Gründe charakteristisch.“
Die Erfindung einer Landschaft
Elbe und Moldau: In Tschechien gilt bis heute die Elbe als deutscher Fluss, während die Moldau der Nationalfluss der Tschechen ist. Das ist ein Erbe des 19. Jahrhunderts. Unter Karl IV., der Prag zur Hauptstadt des Heiligen Römischen Reichs ausbaute, war die Elbe Böhmens Verbindung zum Meer.
Elbe und Grenze: Konrad Adenauer hat einst behauptet, hinter der Elbe beginne Asien, und so das Image der Elbe als Grenzfluss fortgeschrieben. Doch die Elbe hat in ihrer Geschichte immer auch gemeinsame Räume hervorgebracht. Mit Sandstein aus dem Elbsandsteingebirge wurde das Hamburger Rathaus gebaut, böhmische Schiffer brachten das Ahoi nach Tschechien, in Hamburg gibt es noch immer den Moldauhafen.
Mit dem Rückgriff auf die Schweiz wurde der Canyon der Elbe topografisch umrissen – und zugleich touristisch erschlossen. Dabei folgte auch die Sächsische Schweiz den Etappen, die laut Dinnebier mit der „Entdeckung einer Landschaft“ einhergehen. In einem ersten Schritt muss eine Landschaft, der bis dahin keine größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, „erfunden“ werden. In der Sächsischen Schweiz war das gleichbedeutend mit der Identifikation des „Repertoires“ und seiner Anbindung an eine bereits bekannte Landschaft – die Schweiz.
Der zweite Schritt war die Verbreitung der neuen „Marke“. Dafür sorgte Adrian Zingg mit seinen Studenten aus Dresden, die in ihren Zeichnungen und Gemälden die „Singularibus“, die Besonderheiten der Sächsischen Schweiz, festhielten.
Pfarrer Götzingers Reiseführer
Ein ganz anderes Publikum erschloss der Pfarrer Götzinger mit seinem ersten Reiseführer. Er pries nicht nur die Besonderheit der Landschaft, die durch die Wiederholungen der Motive – Königstein, Bastei, Prebischtor – ikonografische Züge annahm. Seine Beschreibung der Sächsischen Schweiz von 1801 war auch praktische Anleitung zur Reise. Nicht nur auf Skizzen und Bildern sollte man die bizarren Felsen bewundern, sondern durch eigenen Augenschein in Besitz nehmen.
Die dritte Etappe der Entdeckung schließlich folgte dem wachsenden Interesse des Publikums. Fernab jeder Straße entstand deshalb am Prebischtor 1858 eine Hütte, der 1881 der Bau eines Hotels folgte – natürlich im Schweizer Stil. Inzwischen ist dieses Hotel selbst Teil der Landschaftsinszenierung geworden, denn es gilt längst als eigenständige Sehenswürdigkeit und steht unter Denkmalschutz.
So ist aus dem „Meißner Hochland“ oder den „Böhmischen Wäldern“, eine Landschaft, die einst – wie das Mittelrheintal – als gewöhnlich und reizlos galt, eine touristische Marke geworden. Auch William Turner, der Begründer der Rheinromantik, hat der Sächsischen Schweiz während seines Dresden-Aufenthalts 1835 die Ehre erwiesen.
Vom Riesengebirge zur Nordsee
1.094 Kilometer ist die Elbe lang. Auf ihrem Weg vom Riesengebirge bis zur Mündung in die Nordsee durchfließt sie zahlreiche und markante Landschaften: Riesengebirge, Böhmisches Becken, Böhmisches Mittelgebirge, Dresdner Elbtal, Flusslandschaft mittlere Elbe. Eine an Ikonografie und Popularität mit der Sächsischen Schweiz vergleichbare Landschaft oder touristische „Marke“ hat die Elbe auf ihrem Weg bis Hamburg bislang aber nicht hervorgebracht.
Es gibt da dieses Bild, von dem man den Künstler nicht kennt, wohl aber den Titel – „Blick von einer Terrasse an der Palmaille auf Neumühlen“. Entstanden ist das Gouache-Bild um 1760, also etwa zu der Zeit, als die Maler Adrian Zingg und Anton Graff dem Ruf des sächsischen Hofs nach Dresden folgten.
Im Vordergrund des Gemäldes steht ein Paar, vornehm gekleidet, die Perücke war noch nicht aus der Mode. Am rechten Rand erstreckt sich am Neumühlener Elbufer die streng gestaltete Gartenanlage des Hamburger Senators Jencquel.
Doch der Blick des Paars gilt nicht dem Rokokogarten, sondern dem Fluss. Breit strömt die Elbe hier an Altona vorbei, auf dem Wasser schaukeln Handelsschiffe.
Länge: Die Elbe entspringt auf 1.384 Meter Höhe im Riesengebirge. Ein Drittel ihres 1.094 Kilometer langen Laufs führt durch Tschechien. Sie mündet bei Cuxhaven in die Nordsee.
Städte: Im Einzugsgebiet der Elbe, zu dem auch Prag und Berlin gehören, leben 25 Millionen Menschen. Größte Städte sind Hamburg, Dresden, Magdeburg, Ústí nad Labem.
Ökologie: In Tschechien ist die Elbe seit den zwanziger Jahren staureguliert. In Deutschland ist sie auf einer Länge von über 600 Kilometern ein frei fließender Fluss.
Auch ein Aussichtsturm ist zu sehen – ein Hinweis auf das ikonografische Potenzial des Flusses auch außerhalb der Bildrealität.
Eine neuer Blick
Das Gemälde des unbekannten Künstlers steht an der Schwelle einer neuen Betrachtung Hamburgs. Noch bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts überwogen die Stadtansichten, die in Form von Veduten am südlichen Elbufer entstanden und den Blick auf die Hamburger Silhouette richteten.
Nun aber rückte nicht mehr die Stadt, sondern der Fluss ins Visier, die Elbe war nicht mehr Kulisse, sondern Sujet der Maler. Ähnlich den Felsen in der Sächsischen Schweiz wurde in Hamburg der Elbblick zur Marke.
Zur Weltbetrachtung der Patrizier gehörten die Schiffe. Auf der Gouache von 1760 waren es dreimastige Segelschiffe. Sechzig Jahre später waren auf einem Bild von Johann J. Faber Blick über die Elbe oberhalb von Neumühlen die ersten Dampfschiffe zu sehen.
Allerdings fällt auf, dass es sich auf den Gemälden vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart fast ausschließlich um Seeschiffe handelt. Binnenschiffe haben auf der Hamburger und Altonaer Elbe offenbar nichts zu suchen. Nicht stromaufwärts richtet sich das Interesse, der Kompass zeigt Richtung Meer und England, von wo die Reisenden im 18. Jahrhundert aufgebrochen waren, die die Schönheit des romantischen Rheins und später auch der Elbe entdeckten.
Die Schiffe fahren im Gegenlicht voran
In einem Essay hat die in Teufelsbrück, einem Stadtteil Hamburgs, lebende Schriftstellerin Brigitte Kronauer einen Spaziergang am Elbufer beschrieben – und die Landschaft des 18. Jahrhunderts der Gegenwart wieder nahegebracht:
„Wer von den St. Pauli Landungsbrücke immer längs der Elbe […] elbabwärts wandert, womöglich noch über Wedel hinaus zur pathetischen Horizont-Deichlinie am Fährmannssand mit seinen Lerchen, Lämmern, Austerfischern und vorgelagerter, malerischer, das heißt bloß: unregulierter Uferzone, […] marschiert geradewegs auf einen im Juni endlosen Sonnenuntergang zu mit festlich entrolltem Nachhall in einem riesigen Himmel und Wasserspiegel. Er bricht auf in das Bild der Ferne schlechthin, die Schiffe fahren ihm im Gegenlicht als deren ehrwürdige Wahrzeichen voran.“
Kronauers Text erschien 2003 in dem von Thomas Steinfeld herausgegebenen Buch Deutsche Landschaften und trägt die Überschrift „Die Niederelbe“. Das ist für diesen Elbabschnitt wahrhaft eine Erhebung in den Adelsstand – er befindet sich nun in der Gesellschaft bekannter und markanter Landschaften wie der Lüneburger Heide oder dem Bodensee.
Weitere Landschaften an der Elbe haben es nicht in Steinfelds Buch gebracht, nicht einmal die Sächsische Schweiz. Wohl aber kam das Wendland zu seinem Recht, jene vom Widerstand gegen das Zwischenlager Gorleben geprägte Alternativlandschaft, die im Nordosten von der Elbe begrenzt wird.
Eine Hommage
War es ein Missverständnis zwischen Herausgeber und Autorin, oder war es Absicht? Statt sich über das Wendland, seine Müslis und Mollis auszulassen, schmuggelte die Schriftstellerin und FAZ-Feuilletonistin Ingeborg Harms eine Hommage an die mittlere Elbe in Steinfelds Olymp der deutschen Landschaften:
„Wer sich in den mit Weiden, vereinzelten Bäumen, Weißdornhecken und Hagebuttenbüschen bestandenen Wiesen umschaut, den kann aus heiterem Himmel die Erkenntnis treffen, dass er sich auf dem Grunde eines gewaltigen Wassers bewegt. […] Dann kippt das Trockenbecken in die Vision eines von dichtem Gehölz umschlossenen Dschungelstroms um, wie man ihn heute eher in Borneo oder im Amazonas findet.“
Ein erstaunlicher Vorgang. Da bestellt der angesehene Herausgeber eines Buchs einen Text über das Wendland bei einer angesehenen Autorin – und die verfehlt das Thema. Oder muss man die Frage anders stellen? Warum konnte das Wendland zur Marke werden, der man einen Text widmen möchte, die mittlere Elbe aber nicht? Warum bestellte Thomas Steinfeld für sein Buch keinen Text über die Elbtalauen?
Um eine Landschaft als solche identifizieren zu können, das hat die Landschaftsplanerin Antonia Dinnebier am Beispiel der Sächsischen Schweiz gezeigt, bedarf es der Bilder, die sich rasch verbreiten und schließlich kulturelles Allgemeingut werden.
Die Motive sind da
Von der mittleren Elbe aber gibt es keine Landschaftsmalerei. Kein Caspar David Friedrich hat ihr ein Bild gewidmet, kein Ludwig Richter und auch kein Lovis Corinth. Grund dafür sind weniger die fehlenden Motive, denn in ihrem Text spricht Ingeborg Harms ganz ungeniert von den „Turbulenzen des Winters“ und „Caspar David Friedrichschem Schollengeschiebe“.
Es war die Grenzziehung, die hier die Elbe zum Strom am Kartenrand machte – erst zwischen Hannover und Mecklenburg, später zwischen der Bundesrepublik und der DDR.
Nun aber, da die Grenze verschwunden ist, rückt die Elbe, zumindest bei Ingeborg Harms, wieder in den Mittelpunkt des Landschaftsempfindens und -beschreibens. So schält sich also langsam ein Repertoire der Landschaft heraus, die die Elbe schon lange ist, die aber bislang der Entdeckung harrte: Wasser und Weite, blau und grün, Auen und Wiesen, Mäander und Altarme, freier Fluss als – fast – freie Natur. Ein Repertoire, das tatsächlich schwierig zu malen ist, weil es wohl eher die Vogelperspektive verlangt, die in den zahlreichen Publikationen der Umweltschutzverbände bereits eingenommen wird.
Beschrieben und verbreitet wird das Bild der mittleren Elbe allerdings immer häufiger. In Essays wie dem von Ingeborg Harms, in Gedichten wie „Elbholz“ von Nicolas Born, in Romanen wie „Nachglühen“ von Jan Böttcher, in journalistischen Liebeserklärungen aus der Feder des Büchnerpreisträgers Arnold Stadler, der sich im Wendland, das auch ihm ein Elbland ist, niedergelassen hat.
Warum nicht „Dschungelstrom“
Noch fehlt die Marke. Doch warum soll man nicht zurückgreifen auf den ebenso kühnen wie charmanten Vorschlag von Ingeborg Harms? Warum nicht die Elbe preisen als amazonischen Dschungelstrom, als deutsches Amazonien? Auch die Sächsische Schweiz war nicht von Anbeginn eine Schweiz, also muss an der Elbe auch kein Regenwald wachsen, damit ein solches Branding gerechtfertigt ist.
Die Landschaftselemente jedenfalls sind vorhanden. Im Lödderitzer Forst bei Aken findet sich der größte zusammenhängende Auenwald Mitteleuropas. Die Elbschleifen bei Coswig und Dessau oder das Elbknie bei Damnatz gehören zum Aufregendsten, was dieser frei fließende Fluss zwischen Elbsandsteingebirge und Unterelbe zu bieten hat. Die Ausbreitung des Wassers nach starken Regenfällen ist nicht nur bedrohlich, sondern auch faszinierend.
Als die Grenze fiel, schreibt Ingeborg Harms über ihre eigene Entdeckung des mecklenburgischen Elbufers, „übertraf die Poesie der altmodischen Landschaft jede Vorstellungskraft“. So oder so ähnlich hatte auch der Schandauer Pfarrer Wilhelm Leberecht Götzinger 1786 von der Sächsischen Schweiz geschwärmt – und eine elbische Erfolgsgeschichte eröffnet, die auch andernorts noch viele Bilder hervorbringen wird.
Der Text ist eine gekürzte Fassung aus Uwe Radas Buch „Die Elbe. Europas Geschichte im Fluss“, das soeben im Siedler Verlag erschienen ist. 320 S., 19,99 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen