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Die EU und der BrexitZwischen „B-Wort“ und Plan B

Wegducken hilft nicht mehr angesichts der Umfragen, hat man in der EU erkannt. Was aber tun, wenn es zum Brexit kommt?

Bomber-Harris für die EU? Die Manschettenknöpfe des Ukip-Chefs Nigel Farage Foto: reuters

Brüssel taz | Nur die Ruhe bewahren, bloß nichts anmerken lassen. So reagierte die Europäische Union bisher auf den Vormarsch der EU-Gegner in Großbritannien. Das „B-Wort“ stehe auf dem Index, machte sich das Onlineportal Politico über die Eurokraten lustig. „In Brüssel herrscht die Omerta, wir dürfen nichts sagen“, ärgerte sich der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff.

Doch nun beginnen sich die Zungen zu lösen. Seit fast alle Umfragen in Großbritannien auf eine Trendwende zugunsten der EU-Gegner deuten, verstoßen selbst hochrangige EU-Politiker gegen das offenbar wirkungslose Schweigegelübde.

„Der Brexit könnte der Beginn der Zerstörung nicht nur der EU, sondern der gesamten politischen Zivilisation des Westens sein“, warnte EU-Ratspräsident Donald Tusk in einem Interview mit einer großen deutschen Boulevardzeitung. Damit war der Ton gesetzt. Ein Brexit wäre eine „Katastrophe“, pflichtete eine Sprecherin von Kommissionschef Jean-Claude Juncker nach. Die EU ist so nervös geworden, dass sie sich nun doch noch offen einmischt.

Allerdings nur mit Warnungen. „Project Fear“ nennt man das in London. „Wir haben keinen Plan B“, heißt es schulterzuckend in Brüssel. Dabei hatten die EU-Chefs genug Zeit, um sich für alle Fälle vorzubereiten. Schließlich hatte Premier David Cameron sein Referendum schon im Januar 2013 angekündigt.

Doch erst jetzt beginnen sie, sich auf den Ernstfall vorzubereiten. In Brüsseler Hinterzimmern habe es bereits mehrere geheime Krisentreffen gegeben, berichten Diplomaten. Deutschland, Frankreich und Polen wollen sich dem Vernehmen nach auf ein gemeinsames Vorgehen am „Tag danach“ vorbereiten.

Schock auf den Finanzmärkten?

Am heutigen Donnerstag will sich auch die Eurogruppe mit dem Brexit befassen. Zwar üben sich auch die Euro-Finanzminister in Geheimniskrämerei. Offiziell steht das Reizthema nicht auf der Tagesordnung, angeblich will man nur über Rentenreformen reden.

Die EU-Chefs hätten längst die Initiative ergreifen können

Doch die Chefin der Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, wird sich die Gelegenheit nicht nehmen lassen, mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und seinen Amtskollegen über den Brexit zu sprechen. Schließlich fürchtet sie einen Schock auf den Finanzmärkten – weltweit, nicht nur in der City of London.

Die Europäische Zentralbank hat bereits erklärt, dass sie für alle Fälle gerüstet sei. Auch der Europäische Rat bereitet sich auf das „Worst Case“-Szenario vor – nur fünf Tage nach dem Referendum in London wird es einen EU-Gipfel in Brüssel geben.

Doch was Kanzlerin Angela Merkel und die übrigen EU-Chefs dort beschließen werden, wissen sie offenbar selbst noch nicht. Das weitere Vorgehen hänge von London ab, heißt es in Brüssel. Und von dort kommen eine Woche vor dem „Tag X“ immer noch keine klaren Signale.

Der Mut fehlt

Werden sich die Briten bei einem Sieg des „Leave“-Lagers auf Artikel 50 der EU-Verträge berufen und sofort ihren Austritt erklären? Oder lassen sie sich Zeit? Wollen sie vielleicht sogar noch eine neue Regierung installieren, bevor sie mit der EU reden?

Das sind die bangen Fragen, die man sich in Brüssel stellt. Dabei hätten die EU-Chefs schon längst selbst die Initiative ergreifen und das weitere Vorgehen festklopfen können.

Dann hätten nicht nur die Briten gewusst, womit sie beim Brexit rechnen müssen. Auch uns Kontinentaleuropäern wäre es erspart geblieben, wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren. Doch dazu fehlte Kanzlerin Merkel und den anderen Chefs wohl der Mut.

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6 Kommentare

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  • 4G
    4932 (Profil gelöscht)

    Stimme Herrn Bonse zu.

    Zitat: 'Der Brexit könnte der Beginn der Zerstörung nicht nur der EU, sondern der gesamten politischen Zivilisation des Westens sein“, warnte EU-Ratspräsident Donald Tusk in einem Interview'.

    Nein, Herr Tusk, der Brexit ist notwendig, um endlich die politische Zivilisation Europas wieder auf die Beine zu stellen, und zwar mindestens ohne die Visegrád-Staaten. Der Brexit wird ein reinigendes Gewitter über Europa auslösen. Und das hat Europa dringend nötig und ist sehr gut so.

  • Ich finde skandalös, wie man den Bürgern mit dem Brexit systematisch Angst machen will, so als wäre dies das Ende der westlichen Zivilisation. Norwegen und die Schweiz sind nicht in der EU, Dänemark lebt gut ohne Euro........ Also wozu das Ganze? Wohl gesteuert von Interessengruppen, die willige Nachplapperer finden.

    Trotz EU bleibt England ein freies Land, es kann entscheiden, ob es im Wirtschaftblock EU bleiben will oder nicht; es steht nicht unter der Vormundschaft der europäischen Öffentlichkeit.

  • Ja, so ist das wohl.

     

    Und leider ein Spiegel warum alle mit der Brüssel- EU so unzufrieden sind.

    Die etablierte Poltik hat bisher Glück gehabt dass die Wähler letztlich doch rational entschieden haben, von Frankreich bis Österreich.

     

    Das wird so nicht bleiben und leider ist ein Brexit - Entscheid hundertfach relevanter als ein Bundespräsidentenamt in Österreich. Wehe wenn es ausgerechnet jetzt kippt.

     

    Die Politik schläft tief und fest und ein Herr Unsäglich Juncker und seine Konservativen (zu denen ich auch die deutsche SPD zähle) mit Durchhalteparolen weisen den Krawallbrüdern von rechts noch Vorschub.

     

    Die EU muss rasch renoviert werden und ein alleiniger (wenn auch richtger) Verweis auf ein Friends-Europa reicht nicht aus.

     

    Man hat nationalistisch denkende Osteuropastaaten in die EU eingebettet und so bitter das ist: Man muss auf deren Gedanken und deren von UK eingehen (mehr Eigenverantwortung der Nationalstaaten und Toleranz gegenüber deren Meinung) und nicht weiter auf eine derzeit nicht machbare zentralistischere EU setzen.

  • 3G
    32795 (Profil gelöscht)

    "Doch dazu fehlte Kanzlerin Merkel und den anderen Chefs wohl der Mut."

     

    Nein, es fehlte nicht der Mut, das war lediglich das Standardprogramm der modernen Politik. Eine unerwünschte Erscheinung wird so lange nicht zur Kenntnis genommen bis es am Ende knallt.

    Auch im Falle des britischen Referendums wurde dadurch alles nur noch schlimmer gemacht. Durch das feige Wegducken der Europäer gab es weder einen Dialog mit der britischen Bevölkerung noch konnten die Folgen des Brexit dargestellt werden (man muß über viele Folgen ja erst noch beraten).

    Stattdessen preschen einige Großkopferte im letzten Moment panisch vor und beginnen gereizt, wohl eher schon drohend, zu "warnen". Dies ist wiederum Wasser auf die Mühlen der Brexit-Befürworter.

     

    Es erinnert mich an die drei Affen, die Älteren unter den Lesern werden sich noch an sie erinnern...

  • Ich hatte immer den Eindruck dass selbst im Falle eines Brexit noch einige Zeit vergehen würde bis der Austritt durchgeführt wird. Deshalb halte ich die "keine Panik - erst einmal abwarten"-Politik der EU schon für richtig.

     

    Die Administration der EU hat meiner Meinung nicht nur im UK ein Glaubwürdigkeitsproblem.

    EU Abgeordnete hat doch niemand auf dem Radar. Ich schaue mir zB schon des öfteren Parlamentsdebatten des deutschen Bundestages an. Von Brüssel kann ich das weder behaupten noch habe ich wirklich das Vertrauen die dortige Politiklandschaft zu verstehen. Die EU-Kommission habe ich auf jeden Fall nicht gewählt.

    Dazu kommen dann die üblichen Probleme mit Politikern die sich nicht direkt vom Volk beobachtet fühlen und deshalb als Vollzeitlobbisten der Wirtschaft auftreten.

     

    Und nicht zu aller letzt muss ich sagen dass gerade wegen meines fehlenden Interesses/Wissens zu EU-Administration jede angeprangerte "einen Wasserspender für jedes EU-Land" Aufregung auch wirklich mein Vertrauen in die EU untergräbt.

     

    Das alles kommt von einer studierten, europafreundlichen Person mit durchschnittlichem Eigeninteresse an Politik und Wirtschaft.

  • Der Bankenplatz London würde an Bedeutung massiv verlieren - ist für die EU kein Nachteil.