■ Die Deutschen leben immer länger. An der Altersfrage wird sich eine neue Kritik der Wettbewerbsgesellschaft entzünden: Wir haben Zeit
Wer zu den „Oldies“ zählt, ist eine Frage der Definition. „Der erste Oldie-Supermarkt“ jubelte die Boulevardpresse über die Berliner Filiale des deutsch-dänischen Discounters Netto. Hier sind alle Mitarbeiter über 45 Jahre alt. Die Presse druckte Fotos von strahlenden VerkäuferInnen, die alle vorher vergeblich einen Job gesucht hatten. Bei Netto bekamen sie eine Chance, denn der Discounter stellt für den Berliner Laden gezielt nur Ältere ein. „Eine Idee gegen den Trend“, lobten die Medien.
Netto landete mit der Altersgrenze „nach unten“ einen PR-Gag für das Unternehmen. Denn wer über 45 ist und arbeitslos, gilt auf dem Jobmarkt heute als Sozialfall. Noch. In zehn Jahren wird fast die Hälfte der Bevölkerung die 45 überschritten haben und die Lebenserwartung bei 80 Jahren liegen. Wie das lange Leben gesellschaftspolitisch gestaltet wird, ist die wichtigste Frage der Zukunft.
Bisher wird die Frage der Alterung vor allem als Problem betrachtet. Produktivitätsverlust, Rentenkosten, Krieg der Generationen! lauten die Warnrufe. Doch die Chancen stehen nicht schlecht, dass sich an der Altersfrage nicht nur eine Kritik der Sozialsysteme, sondern auch eine neue, vielleicht die entscheidende Kritik an der Wettbewerbsgesellschaft im 21. Jahrhundert entzündet.
Denn schon in zehn Jahren werden die unter 30-Jährigen nur noch 20 Prozent der Erwerbspersonen stellen, resümiert ein Bericht des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Die über 50-Jährigen machen dann fast 30 Prozent der Erwerbstätigen aus. Die herkömmlichen Entsorgungsmechanismen taugen dann nichts mehr: Der Streit um die „Rente mit 60“ bestätigt, dass die Jüngeren nicht mehr in einen neuen Kollektivfonds einzahlen wollen, nur damit die Älteren früher in Rente gehen können.
Das künftige Nebeneinander der Generationen muss daher neu gedacht werden. Die Jüngeren dürfen nicht überfordert werden, die Älteren müssen auch noch ihren Platz in der Erwerbsgesellschaft haben. Das Baseler Prognos-Institut erwartet „absehbaren Nachwuchsmangel“ spätestens in 20 Jahren.
Die herkömmlichen Karrieremuster von Einstieg, Aufstieg, Stagnation und frühem Ausstieg gelten nicht mehr. Doch damit müssen soziale Besitzstände und Jobchancen über die Lebensalter neu verteilt werden. Bisher zahlen die Jüngeren unverhältnismäßig viel in das Rentensystem ein und stehen schon früh unter hohem Leistungsdruck. Schon lange vorbei sind die Zeiten, wo man sich Urlaubssemester erlauben konnte. Dabei waren Langzeitstudenten auch eine Entlastung für den Arbeitsmarkt, wie Ralf Dahrendorf einmal schrieb.
Die Jüngeren sollen immer noch etwas produktiver sein als die Generation davor, so fordert es die Wachstumsdynamik. Die Überforderung der Jugend rühre auch aus dieser „Dynamik der Leistungssteigerung her“, schreibt der Publizist Karl Otto Hondrich. In der ersten Lebenshälfte müssen nicht nur berufliche Höchstleistungen erbracht, sondern auch eine Familie gegründet werden.
Die mittlere Altersgruppe wiederum ist gefangen zwischen sozialen Besitzständen und dem sinkenden Marktwert. Wer 45 ist, genießt zwar hohen Kündigungsschutz. Doch wer seinen Job verliert und alleine auf den Markt geworfen wird, gilt schon als „zu alt“ für Neues. Dabei haben viele Frauen in diesem Alter erst die Hälfte ihres Lebens hinter sich.
Die RentnerInnen schließlich treten zunehmend nur noch als Kostenfaktor auf, die den sozialen Besitzstand ihrer Rente horten. Ihr letzter verbliebener Wert sind ihre Stimmen bei Wahlen.
In einer Alten-Gesellschaft mogeln sich die Mächtigeren dabei (un)auffällig um die emotionalen Kosten herum. Politiker können noch mit 54 Jahren Bundeskanzler werden, joblosen Sachbearbeitern bleibt nur die Parkbank. Männer schieben gerne den Frauen die soziale Abwertung zu („Falten machen einen Mann interessant, aber eine Frau ...“). Nur die Macht hält jung – so ein gängiges Klischee.
Da nicht offen über Verteilungsfragen diskutiert wird, geraten die medialen Botschaften doppeldeutig: Senioren werden in der Werbung fröhlich golfend gezeigt, dahinter steckt die ungewollte Botschaft: „Ihr seid nur noch ein Versorgungsfall!“ Die Magazinberichte über junge Existenzgründer aus der Informations- und Technikbranche („mit Innovation zur ersten Million!“) setzen wiederum die junge Generation unter hohen Erwartungsdruck. Wer zufällig gerade nicht einen 60-Stunden-Job im Management anstrebt oder eine eigene Firma im IT-Bereich gründen will, sieht buchstäblich alt aus.
Die Phase der Jugendlichkeit ist in den westlichen Industriegesellschaften zwar schon erheblich nach hinten verlängert worden; aber es gibt Grenzen der Selbstverleugnung. Wer sich in den kinderreichen Schwellenländern und Drittweltstaaten umsieht, erlebt –ohne jede Idealisierung –, was eine biologisch „junge“ Gesellschaft ist. Jeder deutsche Vorruheständler, der durch die Straßen Rio de Janeiros schlendert, wird dort als alter Tourist wahrgenommen. Im globalen Maßstab sind wir nicht mehr jung.
Das neue Nebeneinander der Generationen in Deutschland, die „Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem“, wird so zu einer neuen „Herausforderung für die Demokratie“, wie der Wiener Philosoph Leopold Rosenmayr schreibt. Keiner darf nur noch auf seine sozialen Besitzstände pochen, und alle müssen teilhaben dürfen, auch auf dem Jobmarkt. Die Uhren werden neu gestellt.
Eine neue Vielfalt der Lebensalter muss Jüngeren zugestehen, sich buchstäblich mehr Zeit lassen zu können mit dem Karriere-Design. Die neue Vielfalt muss Müttern und Vätern im mittleren Alter die Angst nehmen, beruflich abgemeiert zu werden, wenn sie wegen der Kinder kürzer treten. Es sollte ein Recht auf Eltern-Teilzeit geben, das zumindest der Unternehmensleitung die Verpflichtung auferlegt, Teilzeitwünsche ernsthaft mit dem Betriebsrat zu prüfen. Das Tarifsystem muss flexibilisiert werden: Viele über 40-Jährige erleben heute, dass sie nicht mehr eingestellt werden, weil sie schlichtweg laut Gehaltstarif „zu teuer sind“. Es muss zudem ein ökonomisches und kulturelles Konzept für den „Abstieg“ geben, also ein Herunterfahren der Leistungskraft. Ein neues Nebeneinander der Generationen erfordert, dass man das Altern nicht mehr verleugnet, wenn über Arbeitsbedingungen gesprochen wird.
Das Konzept der „Verlangsamung“ und des „Abstiegs“ aber kommt in der globalkapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft nicht vor. Noch nicht. Damit steckt im Altern ein subversives Element. Und die Botschaft an den Einzelnen: Die Zeit läuft nicht davon! Was doch erfreulich wäre.
Barbara Dribbusch
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