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Die Bilder im Kopf

Die aktuelle Debatte um die Ära der Achtundsechziger lebt von – ofmals sehr vagen – Erinnerungen. Wenn man sie einem Wirklichkeitstest unterzieht, ist vieles nicht so gewesen, wie die heutigen Assoziationen suggerieren. Eine Selbstprüfung anhand des Kritischen Theoretikers Herbert Marcuse

von DIRK KNIPPHALS

Dies ist die Geschichte einer Täuschung. Wir werden lernen, dass nicht nur Biografien Brüche haben können. Auch Erinnerungen haben sie. Gerade jene an Bilder, die man im Kopf zu haben glaubt. Wenn es nicht zu platt wäre, könnte man auch noch erwähnen, dass es wohl ab und zu ganz gut ist, die Bilder, die man im Kopf hat, einem Wirklichkeitstest zu unterziehen.

Was die Jahre 68 fortfolgende betrifft, nicht wahr, so schwirren derzeit ja eine ganze Menge Vorstellungen durch die Artikel und die Gespräche. In diesem speziellen Fall muss man sich ein Kaffeehaus vorstellen, gelegen in einem sehr bewohnbaren Teil der Mitte unserer Hauptstadt, ein Ort, den die Nachfolger der Achtundsechziger, die so genannte Toskanafraktion samt Nachgeborener wie mir, inzwischen in Beschlag genommen haben.

Und zwar hatte A., ein Studienfreund, sinngemäß behauptet: Was die heute alle reden! So verschieden waren die Achtundsechziger auch nicht zu uns Heutigen. Mag sein, die Mode hat sich geändert; wie man sich gibt, hat sich geändert; die sozialen Verkehrsformen sind anders. Aber wenn man’s mal nüchtern sieht – im Satz pausierend nahm er einen Schluck Merlot –, dann sind sich die Menschen doch ziemlich gleich geblieben.

Eine Ansicht, die ich in anderen Gesprächssituationen womöglich sogar selbst vertreten hätte, durch die ich mich hier und jetzt aber herausgefordert sah. Ich hörte mich Widerworte sagen: Doch haben sie sich geändert. Zum Beispiel waren sie damals sehr viel heldengläubiger als wir heute. Autoritätsfixiertheit habe es auch bei den Linken gegeben. Gerade bei den Linken. Man habe sich regelrecht Selige und Heilige geschaffen. Jawohl, Selige und Heilige – wie die katholische Kirche.

An wen denkst du da so zum Beispiel?, hatte A. gesagt. Und so zählte ich auf: Rudi Dutschke gewiss, John F. Kennedy auch, Angela Davis später, Che Guevera natürlich, Martin Luther King und Daniel Cohn-Bendit ohnehin, Joan Baez, die Veteranin, nicht zu vergessen. Und Lenin und Rosa Luxemburg – eine ganze Galerie von Seligen und Heiligen habe es gegeben, für jede Fraktion, von Liberalala bis Militant, was dabei.

Auch die Theoriekings, fuhr ich fort, seien nicht nur gelesen, sondern vor allem auch, sozusagen, angebetet worden. Herbert Marcuse zum Beispiel. Ich könne mich da an ein Bild erinnern, auf dem Marcuse in Berlin auftrete und das geradezu wie die Bergpredigt wirke . . . A. hatte sofort geantwortet. Dieses Bild, sagte er, müsse ich bis zu unserem nächsten Treffen besorgen.

Und da hatte ich also den Salat. Denn als die taz-Fotoredaktion einen Abzug besorgt hatte, sah es auf einmal ganz anders aus. Vielleicht sehen Sie es sich einmal an. Es zeigt den Sozialphilosophen Herbert Marcuse, wie er im Jahre 1967 einen Vortragsraum der Freien Universität Berlin bespielt. Wie leicht zu erkennen, war es sehr voll.

Ein Ereignis, das war der Auftritt Marcuses, des Exilanten, des Mitarbeiters und Watschenmanns Adornos, also tatsächlich. Entlarvung der repressiven Toleranz. Befreiung von Fantasie und Sinnlichkeit. Verwirklichung der unverstellten Vernunft. Rebellion gegen das Bestehende. Intellektuelle Munition für diese Vorhaben fand sich in Marcuses Schriften, aber was war das schon gegen eine leibhaftige Predigt.

Denn thront der Philosoph auf dem Foto nicht wirklich wie Jesus über seinen Jüngern? Wie ein Volkstribun im vollen Bewusstsein seiner rhetorischen Potenz? In dieser Hinsicht hatte die Erinnerung an das Bild also nicht getrogen. Aber sehen Sie sich doch bitte die Zuhörer an! Heldenverehrung? Anbetung gar?

Es gilt, sich wohl gegen einige sehr berechtigte Einwände von Seiten A.s zu wappnen. Mag sein, dass hier eine Generation zu sehen ist, die, wie die Legende will, gerade den Anschluss an die ältere Kritische Theorie sucht. Möglicherweise wird hier gerade der herrschaftsfreie Diskurs geprobt. Aber geistig bei der Sache gewesen, das sind die Zuschauer auf gar keinen Fall.

Die meisten sehen unkonzentriert aus. Viele wirken gelangweilt. Und sehen Sie die drei Männer direkt unter dem Rednerpult? Schlafen die nicht sogar? Scheint so, als sei der Auftritt Marcuses ein soziales Ereignis gewesen, zu dem man unbedingt hingehen musste. Nur leider hat der gute Mann dann auch noch eine höchstwahrscheinlich komplizierte Rede gehalten, der zu folgen man sich dann nicht mehr verpflichten konnte.

Ein Erweckungserlebnis oder etwas anderes, was zu einer zünftigen Heldengeschichte gehört, hat von den hier abgebildeten Personen jedenfalls niemand gehabt. Was erzähle ich beim nächsten Treffen nur A.? Ich weiß es, ehrlich gesagt, noch nicht.

Meine Erinnerung an das berühmte Foto hat mich jedenfalls getäuscht. Als Beweis für die These von der Heldengläubigkeit der Achtundsechziger, die sich unangenehm abhebe von der Nüchternheit der Heutigen, kann es nicht herhalten. Ich habe mich zu stark an den vermeintlichen Helden und zu wenig an die angeblich Gläubigen erinnert.

Wenn es nicht zu sehr nach stumpfem Fazitziehen klänge, noch zu erwähnen, dass die Zeit um 68 wohl doch zu schillernd, zu komplex und zu quirlig war, als dass man sie mit einigen Schlagworten mehr als dreißig Jahre danach erledigen könnte. Aber vielleicht wussten Sie das schon.

DIRK KNIPPHALS, 37, Ressortleiter der taz-Kultur, lebt seit gut einem Jahr in Berlin. Zuvor arbeitete er beim derweil eingestellten Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt in Hamburg

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