Die 51. Viennale: Ein sinfonischer Höllentrip

Radikal sinnlich, ohne überflüssige Kommentare: Das Internationale Filmfestival in Wien widmete sich dem neuen Dokumentarfilm.

Die Erweiterung der Wahrnehmung in trans-menschliche Bereiche: Ausschnitt aus „Leviathan“ von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel. Bild: Viennale

Langsam verlöschen die Lichter im plüschig roten Saal des Wiener Metro-Kinos, der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick auf die Leinwand frei. Doch der Screen bleibt dunkel, ganze 75 Minuten lang, nur die Lautsprecher im Hintergrund der Bühne haben reichlich zu tun.

Denn die beiden folgenden Präsentationen entfalten sich nicht aus den filmüblichen, gebündelt reflektierten Lichtstrahlen, sondern als raumgreifendes Tonspektakel im ganzen Saal.

Dabei zieht Stephanie Sprays 20-minütige Himalaja-Exkursion „Dead Ice“ alle Register vom sachten Tröpfeln bis zum krachenden Felsabgang und türmt die erodierende Gletscherwelt als „hydrophonischen“ Katastrophenfilm aus Brocken von Wasser-, Wind- und Steinschlaggeräuschen auf.

Motorbrummen als Nervensystem des Berges

„Swiss Mountain Transport Systems“ von Ernst Karel sammelt bei einem Ausflug in die Schweizer Alpen statt Ausblicken auf Berggipfel (neben verwehten Kuhglocken) das Motorenbrummen der Transport- und Aufstiegssysteme, die längst das eigentliche Nervensystem der Berglandschaft bilden.

Ort der Vorführung war mit der heute zu Ende gehenden Viennale ein Filmfestival, das bei der Präsentation vielfältiger kinematografischer Formen und Positionen gerne an den Rändern des Filmischen Entdeckungen macht.

Wie produktiv solches Vorgehen sein kann, zeigte sich auch an den beiden vorgestellten dokumentarischen Hörstücken aus dem Umfeld des „Harvard Sensory Ethnographic Lab“ (SEL), die den Wahrnehmungsraum radikal von den im Dokumentarfilm üblichen verbalen und begrifflichen Argumenten befreien und einen Raum unmittelbar sinnlicher Erfahrung öffnen.

Verzicht auf Musik und Kommentar

Das schärft auch den Blick auf die ästhetischen Strategien der dokumentarischen Filme, die am SEL produziert und in Wien vorgestellt wurden. Auch hier ist die – oft experimentelle – Gestaltung des Tons ein zentraler, durch den Anthropologen, Komponisten und Tonmeister Ernst Karel mit musikalischer Expertise betriebener Faktor wie der Verzicht auf Kommentar und Musik.

Avanciertestes Beispiel hierfür ist „Leviathan“ (nach „Sweetgrass“ der zweite SEL-Film dieses Jahres im deutschen Verleih), der den natürlichen Soundtrack der gefährlichen Arbeit auf einem nordatlantischen Fischkutter zu einem sinfonischen Höllentrip aus Maschinendröhnen, kreischende Winden, Möwengeschrei und dem Röhren des Ozeans verdichtet.

Miniaturtechnik aus dem Sportbereich

Für ähnlich immersive visuelle Wirkung nutzten die Filmemacher Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel innovative Miniaturtechnik aus dem Sportbereich zur Perspektiverweiterung und lassen die Kamera etwa am Schiffsboden zwischen den zappelnd verendenden Fischleibern hin und her taumeln. Eine aufregende Erweiterung der Wahrnehmung in transmenschliche Bereiche, die auch an Dsiga Wertows Visionen vom allgegenwärtigen Kamera-Auge anknüpft.

Gegründet 2006 von dem Anthropologen Lucien Castaing-Taylor als eigenständiges Institut der Fachbereiche „Anthropology“ und „Visual and Environmental Studies“ der Harvard University, distanziert sich das SEL von der ethnologischen Filmpraxis ebenso wie vom (in den USA) gängigen kommerziellen Dokumentarfilm, der sich mit zunehmend marktschreierischen Methoden im Feld behaupten muss.

Stattdessen versucht man, traditionelle dokumentarische Ansätze wiederzubeleben und (oft spielerisch) durch die intelligente Verknüpfung mit künstlerischer Formenvielfalt weiterzuentwickeln. Dabei beharren die Filmemacher trotz aller antinaturalistischen Vorsicht im Unterschied zu anderen avancierten zeitgenössischen dokumentarischen Positionen recht ungebrochen auf der Kraft auch sozialer Erkenntnis durch authentische Erfahrung.

Gemeinsam ist den Filmen die Sinnlichkeit

Auch wenn die Methoden der einzelnen Filmemacherinnen und Filmemacher (neben Karel und Castaing-Taylor fast immer Studierende des Instituts) so unterschiedlich sind wie ihre Sujets und von der mit Wackelkamera gedrehten Beschreibung eines hinweggentrifizierten Autoschrotthofs („Foreign Parts“, Regie: Véréna Paravel, J. P. Sniadecki, 2010) bis zur streng strukturell organisierten Versuchsanordnung („Manakamana“, Regie: Stephanie Spray und Pacho Velez, 2013) reichen, gibt es Gemeinsamkeiten.

Vor allem in der sinnlichen Verortung im Hier und Jetzt und einer Dekontextualisierung, die auf Erklärungen ebenso verzichtet wie auf die von Drehbuchseminaren wie Fördergremien gern verlangte narrative Einbettung.

Beziehung zwischen Filmenden und Gefilmten

Gemeinsam ist ihnen auch ein Gestus, der über die bloße Beobachtung hinaus die Beziehung zwischen Filmenden und Gefilmten erzählt. Besonders schön gelungen ist das bei „Chaiqian (Demolition)“ (Regie: J. P. Sniadecki, 2008), der eine Gruppe von Wanderarbeitern in Schanghai bei Abrissarbeiten begleitet und dabei immer wieder über die Kamera mit ihnen ins Gespräch kommt.

Da werden von den Arbeitern ausführlich die technische Ausrüstung der Filmemacher und die gewährte Aufwandsentschädigung (Zigaretten!) begutachtet und debattiert. Und es werden untereinander Vorschläge für das Verhalten vor der Kamera gemacht – zum Beispiel statt von „Huren“ lieber von „kleinen Schwestern“ zu reden, um das Filmteam auszutricksen.

Ein Spiel von Variation und Wiederholung

In puncto Transparenz und Selbstreflexion eher schwach ist die jüngste, in Locarno uraufgeführte Arbeit aus dem SEL, die die negativen Seiten der praktizierten Entkontextualisierung deutlich werden lässt. „Manakanama“ zeigt in Echtzeit und starrer frontaler Einstellung eine Reihe von Menschen, die im nepalesischen Hochgebirge mit der Kabinengondel zu einem religiösen Fest fahren, und beglückt das Zuschauerherz mit dem verführerisch schönen Spiel von Variation und Wiederholung.

Schade nur, dass solch struktureller Geschlossenheit auch alle Hinweise auf die – nicht unbedingt dokumentarisch offenen – Entstehungsbedingungen der Arbeit geopfert werden.

Als spannendes Gegenprogramm zum zunehmend verödenden dokumentarischen Mainstream haben die Filme aus dem Harvard Ethnology Lab in den letzten Jahren auf Filmfestivals weltweit Erfolge gefeiert.

Ein Siegeszug, der auf die Arbeit am Institut selbst nicht nur positiv zurückwirkt, wie etwa Regisseurin und Lab-Betreuerin Stephanie Spray berichtet. Denn durch den internationalen Ruhm bekommt die spröde akademische Welt plötzlich ungeahnten Sex-Appeal und lockt so ganz neue Typen von Studierenden an, auf deren Ambitionen und Eitelkeiten man nicht wirklich scharf ist.

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