Deutsche Schriftsteller in Georgien: Das Handyklingeln der Freiheit
Kurz nach dem Regierungswechsel in Georgien reisen deutsche Schriftsteller in das Land. Bei den Lesungen zelebriert das Publikum eine neue Freiheit: telefonieren.
TBILISSI taz | Das Angebot bestand darin, „embedded“ mitzufahren, als ginge es mit schusssicherer Weste in ein Kriegsgebiet. Ich sollte als Journalist aber nur eine Gruppe von deutschen Schriftstellern – Jenny Erpenbeck, Olga Grjasnowa, Annett Gröschner, Michael Kumpfmüller und Benjamin Stein – auf einer Reise in die georgische Hauptstadt Tbilissi begleiten, an einen sonnigen, friedlichen Ort.
Wenn man Autoren schon nicht beim Schreiben beobachten kann, dann doch immerhin beim Reisen – und das ist für viele sowieso der Hauptbestandteil ihres Berufs. Schriftsteller sind heutzutage fahrende Leute, Handelsreisende in eigener Sache. Im Ausland verwandeln sie sich in Botschafter.
Wie so viele derartige Welterkundungen wurde auch die Georgienfahrt vom Literarischen Colloquium Berlin organisiert und vom Goethe-Institut unterstützt. Die Texte, die vorgelesen werden sollten, waren vorausgereist und in Workshops übersetzt worden; eine georgische Broschüre mit Romanauszügen in der schönen, verschnörkelten Schrift des Landes war entstanden, und so war das wichtigste Resultat der Reise schon fertig, bevor wir den Boden Georgiens betraten.
Übersetzungen herzustellen ist eine anspruchsvollere Aufgabe, als die Körper der Schriftsteller per Flugzeug herbeizuschaffen. Doch der ideelle Transfer der Sprachen, Literaturen, Kultur ist durch die physische Präsenz der Urheber unterstützbar. Das ist die Idee, und die ist gar nicht schlecht.
Laute Freiheitsglocken
Würde man die Reise allerdings nur am ersten Leseabend im Goethe-Institut messen, dann müsste sie als gescheitert bezeichnet werden. Sichtbar wurden hier vor allem die Differenzen. Das georgische Publikum demonstrierte, dass es Wichtigeres gibt als Lesungen: nämlich das eigene Handy. Unentwegt wurden Klingeltöne vorgeführt, als ob aus den kleinen Melodien die große Symphonie der Großstadt entstehen sollte. Das anschwellenden Summen und fröhliche Fiepen mündete in kollektive Begeisterung. Klingeltöne sind eine rudimentäre, aber unumstößliche Form der Vergesellschaftung.
Dabei, so ist hier immer wieder zu erfahren, habe man in den vergangenen Jahren unter Präsident Saakaschwili am Telefon nur noch übers Wetter und unverfängliche Dinge gesprochen, aus Angst vor ungebetenen staatlichen Mithörern. Ob es sich dabei um eine Paranoia aus sowjetischer Zeit oder um eine reale Sorge handelt, ist schwer zu entscheiden. Dass die allgemeine Stimmung diese Befürchtung möglich machte, ist aber schlimm genug.
Demnach ist die Klingeltondemonstration dieses Abends auch als Läuten der Freiheitsglocken zu verstehen, obwohl in den Tagen, die wir hier verbringen, niemand so ganz genau zu sagen vermag, was denn nun mit der neuen Regierung Iwanischwili anders werden wird und was genau an der alten so schrecklich war. Vielleicht ist der Wechsel vor allem eine Stimmungsfrage und erfüllt seinen Zweck schon in sich selbst: Ein Regierungschef ist abwählbar, ein neuer kommt ins Amt. Das ist die Probe auf die Demokratie. Saakaschwili könnte, wenn der Machtwechsel funktioniert, im Abgang zu einem Helden der georgischen Geschichte werden.
Stephan Wackwitz, als Leiter des Goethe-Instituts seit einem Jahr in Georgien, nahm das Klingeltonkonzert gelassener als die überraschten deutschen Gäste, denen das Lesen damit schwer gemacht wurde. Die Jahre zuvor hat er in New York verbracht, ist aber froh, nun hier in Tbilissi sein zu dürfen. New York, so sagt er, sei nur noch ein Museum der Moderne des 20. Jahrhunderts. Hier aber, in Georgien, sei eine Dynamik spürbar, hier entstehe etwas Neues. Er sei sicher, dass das Land in wenigen Jahren auch touristisch entdeckt werde.
Gäste aus der Zukunft?
Zwei Tage später, bei der Lesung im Literaturmuseum, zeigt Direktor Lascha Bakradse, Hausherr und Moderator des Abends, den Zuhörern, wie man ein Handy auf stumm schalten kann: mit durchschlagendem Erfolg. Benjamin Stein präsentiert mit seinem Roman „Replay“ dazu das passende futuristische Szenario. In dieser Welt werden die Chips der Handys nicht mehr extern im Gerät, sondern im menschlichen Körper implantiert. Mit ihrer Hilfe lassen sich Erinnerungen generieren – und zwar nicht als einfach Wiederholung, sondern als Wunscherfüllung.
Das Angebot der technologischen Verschönerung der Geschichte funktioniert wie eine Droge. Steins Vision einer Herrschaft, die nicht auf Unterdrückung, sondern auf lustvoller Freiwilligkeit beruht, ruft lebhafte Reaktionen hervor. Was er damit sagen wolle? Ob er ein Moralist sei? Nein, sagt er und erzählt, dass er als Unternehmensberater in der Informationsbranche arbeite.
Vielleicht werden die deutschen Gäste hier tatsächlich als Besucher aus der Zukunft wahrgenommen, einer europäischen Zukunft. Die Herzlichkeit des Empfangs, die überall spürbare Freundlichkeit der Menschen, ist nicht berechnend, drückt aber sehr wohl den Wunsch nach Zugehörigkeit aus. Der Westen ist keine Himmelsrichtung, sondern ein Ansporn. Im Jahr 2015 möchte Georgien Gastland der Frankfurter Buchmesse werden. Die Gegenwartsliteratur ist lebendig und vielfältig genug. Knapp 3.000 Titel erscheinen pro Jahr, ein Viertel davon Belletristik. Doch es ist nicht leicht, die engen kaukasischen Sprach- und Schriftgrenzen zu überwinden.
Im georgischen Ministerium für Kultur und Denkmalschutz empfängt mich Medea Metreweli, die das Literatur-Förderprogramm leitet. Medea ist ein verbreiteter georgischer Frauenname. Die griechische Mythologie, die aus der Kolcherin Medea eine kindertötende Barbarin gemacht hat, konnte ihm nichts anhaben. Medea Metreweli, wie viele Georgierinnen eine wunderschöne Frau, sitzt mir nun in einem riesigen Konferenzsaal an einem riesigen ovalen Tisch gegenüber. Leichter vorstellbar als ein Gespräch über Literatur wären hier 24 Generäle bei einer dringlichen Erörterung der Lage.
Puschkins rotes Notizbuch
Sie nennt mir all die Förderprogramme, Übersetzungen, Reprints alter Bücher und Anthologien georgischer Gegenwartsliteratur, die ihr Ministerium ermöglichte, und gewährt mir ein bezauberndes Lächeln. Ich denke an die kleine Flasche Wein, die jeder Einreisende bei der Passkontrolle am Flughafen als Gastgeschenk erhält: „Welcome to the Land of 8.000 Vintages.“
Im Literaturmuseum wartet bereits Lascha Bakradse, der eine kleine Führung durch das Archiv anbietet. Nicht nur 200.000 Handschriften lagern hier, sondern auch Devotionalien der Literaturgeschichte: kostbare Taschenuhren, alte Gewehre, Tabakpfeifen, Trinkhörner und was in einem Dichterleben sonst noch so anfällt. Dazu gehören auch die zwei Patronen, mit denen 1907 der große Dichter Ilia Tschawtschawadse erschossen wurde – vermutlich von Bolschewisten, sagt Lascha Bakradse, der es wissen muss, weil er die Tschawtschawadse-Biografie seines Vaters ins Deutsche übersetzt hat.
Puschkins rotes Notizbuch – oder vielmehr der Einband des Notizbuchs – ist ein weiteres, eindrucksvolles Einzelstück. So wie Georgien als Land der Sehnsucht, in dem Zitronen und Orangen blühen, zur russischen Literatur gehört, so gehören die russischen Dichter zur georgischen Literaturgeschichte – und also auch ihre Notizbucheinbände.
„O sing’ Du Schöne, sing’ mir nicht / Georgiens wehmutvolle Lieder / Sie wecken wie ein Traumgesicht / Mir fernes Land und Leben wieder“, dichtete Puschkin, und Pasternak rühmte in den „Briefen nach Georgien“ das „Zauberische, das mir auf all meinen georgischen Reisen begegnete und das nicht allein durch den Süden zu erklären ist, durch die Berge, den weiten georgischen Charakter, die Schönheit seiner Frauen, durch die Begeisterung und das Gefühl des Erhobenseins auf den geräuschvollen, menschenreichen Banketten; es ist noch etwas Geheimnisvolleres, Tieferes in allen diesen Bestandteilen.“
Als wäre die Sowjetzeit festgehalten
Museum und Archiv sind dringend renovierungsbedürftig. Am Gebäude ist seit Jahrzehnten nichts gemacht worden; das Geld reicht kaum, um die Angestellten zu bezahlen. Man geht durch lange, knarrende Korridore und düstere Zimmer. An den Wänden hängen Ölbilder mit bärtigen Männern und abenteuerlich verlegte Stromkabel. Es ist, als wäre das Gebäude selbst das Museum, als wäre die Sowjetzeit in diesen Mauern festgehalten und dünste immer noch ihren muffigen Geruch aus.
Man trifft darauf immer wieder, inselartig, inmitten einer Gesellschaft in Bewegung: starr blickende Uniformierte; undurchschaubare Anordnungen; Kirchengebäude, denen anzumerken ist, dass sie siebzig Jahre lang als Scheune benutzt wurden; oder die auf einer hohen Säule stehende Sonnen-Statue auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt, die Schewardnadse dort errichten ließ. Sie geht zurück auf einen Besuch Breschnews in den 80er Jahren und dessen Bemerkung, in Georgien gehe die Sonne im Norden auf, da, wo Moskau liegt. Heute arbeitet man daran, dass sie wieder regulär im Osten erscheint, hinter den Bergen, und im Westen untergeht. Denn das ist die reale Lage des Landes an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien.
Am Schluss des Leseabends versammeln sich die fünf deutschen Autoren auf der Bühne und stellen sich den Fragen des Publikums. „Welche Farbe hat Berlin?“ „Wie stark müssen Sie sich anpassen an das, was verlangt wird?“ „Welche Tendenzen sehen Sie in der deutschen Literatur?“ „Wie repräsentativ sind Sie?“ „Was haben Sie über Georgien gelesen?“ Das alles ist schwer und nur unbefriedigend zu beantworten. Dass Tbilissi aber sehr viel kräftigere Farbtöne enthält als Berlin – das steht fest.
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