Deutsche Familiengeschichte: Einmal nur richtig geliebt
An ihrem 80. Geburtstag bricht die Oma unserer Autorin ihr Schweigen. Und erzählt von der einzigen Liebe ihres Lebens. Er war ein SS-Mann.
Meine Oma hat nie geheiratet und hatte auch nie eine Beziehung. In meiner Kindheit habe ich nie gewagt, groß nach dem Vater meines Vaters zu fragen und auch später hütete ich mich immer, weiter nachzuhaken, wenn sie mich bei der Frage nach meinem Opa mit der knappen Antwort abspeiste, dass sie ihn nur flüchtig gekannt habe. Ich akzeptierte ihr Schweigen in der Befürchtung, sie durch näheres Nachfragen womöglich an ein traumatisches Erlebnis zu erinnern: Meine im einstigen Ostpreußen geborene Oma ist nach Ende des Zweiten Weltkriegs als Flüchtling über Dänemark nach Norddeutschland gekommen. Erst 1949 fand sie ihre Familie und zog zu ihrer Schwester nach Stuttgart, wo mein Vater 1950 zur Welt kam.
Wenn ich sie über ihr Leben befragte, erzählte sie immer dieselben Anekdoten: Wie sie sich als Kind der Hausarbeit entzog, indem sie so tat, als würde sie Schulaufgaben machen. Oder wie sie als 17-Jährige während des Zweiten Weltkriegs im Pflichtjahr als Rendantin auf einem besetzten polnischen Gut ihren Chef dazu brachte, Mitleid mit dem Sohn des enteigneten Gutsbesitzers zu haben, obwohl der Waffen für die polnischen Partisanen gesammelt hatte: „Ich habe ihm gesagt, er solle sich doch einmal in einen 15-Jährigen hineinversetzen, der gerade seine Eltern verloren hat.“ Über Liebe oder Beziehungen sprach sie nie.
Erst an ihrem achtzigsten Geburtstag bricht sie ihr Schweigen. Ihre letzten Gäste, ein schwules Pärchen, sind gerade gegangen, als sie alte Fotoalben aus dem Schrank holt. Beim Blättern stoße ich auf Bilder von Soldaten, mit denen sie vor dem besetzten Gut posiert. „Die Männer haben mich damals alle umschwärmt. Ich habe noch einen Haufen Briefe von Verehrern“, sagt sie, geht zu ihrem Schreibtisch, zieht eine schwarze Schatulle mit goldenen Verzierungen heraus, reicht mir einen Stapel vergilbte Briefe und sagt: „Nur von ihm habe ich keinen Brief und kein Bild.“ Als ich frage, von wem sie spricht, erzählt sie sie mir: die Geschichte, warum sie nie geheiratet hat.
„Ich war sofort hin und weg von ihm“, beginnt sie. Ich halte den Atem an: „Redest du von Papas Vater?“ Sie winkt ab. „Ach was, das mit ihm war nichts Ernstes, zumindest nicht für mich. Den habe ich nach meiner Flucht auf einem Bauernhof kennengelernt. Er und sein Vater hätten mich da schon gerne behalten, aber eher als Hilfe in der Landwirtschaft. Die haben bereits die Hochzeitsglocken läuten hören. Da bin ich abgehauen. Dass ich schwanger bin, habe ich erst bemerkt, als ich schon über alle Berge war.“
„Ich war wahnsinnig schüchtern“
Meine Oma geht in ihr Schlafzimmer rüber, winkt mir, ihr zu folgen, hebt, als ich im Türrahmen stehe, ihr Bettkissen hoch, deutet auf ein hellgraues Taschentuch mit weißen Rändern und sagt: „Ich rede von dem Mann, der mir das Taschentuch hier geschenkt hat.“ Sie geht wieder ins Wohnzimmer zurück, streift gedankenverloren über die Briefe und Bilder, die nun auf dem Tisch verstreut liegen, und erzählt: „Ich habe ihn 1943 auf dem Gut kennengelernt. Ein deutscher Offizier hat meinen Chef gefragt, ob er Mädchen kenne. Sie hätten eine Feier und keine Frauen da. ‚Ja‘, hat der gesagt, ‚meine Nichte und meine Sekretärin können kommen.‘ Wir wurden also zu dem Bankett kutschiert, ich habe mich gesetzt und da haben sich unsere Blicke getroffen und es hat geknallt. Dabei haben wir uns nicht einmal unterhalten. An dem Abend wurde nur gesungen und getrunken, aber es muss auch bei ihm geknallt haben, denn als ich rausging, um frische Luft zu schnappen, ging er mir nach.“
Sobald sie aber aufgestanden war, fährt meine Oma fort, merkte sie, dass der Wein ihr bereits zugesetzt hatte: „Ich war ja nicht gewöhnt, zu trinken und mein Abendbrot war schon lange her.“ Gleich vor der Tür musste sie sich übergeben. „Au weia, wie war mir das unangenehm! Ich wollte nur im Boden versinken, da kam er schon auf mich zu, reichte mir das Taschentuch und machte Anstalten, mich zu küssen. Ich war gerade mal neunzehn, hatte noch nie einen Mann geküsst und dachte nur: Das geht doch nicht, du hast doch gerade noch gespuckt! Er aber war mir bereits so nahe gekommen, dass sich unsere Lippen berührten. Da habe ich aus Angst zugebissen. Wir sind wieder reingegangen und haben so getan, als sei nichts passiert.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Am nächsten Abend aber, erzählt sie, saß er mit einem Mal im Herrenzimmer des besetzten Gutes als einziger Gast am offenen Kamin: „Und wieder war ich so aufgeregt, dass ich kein Wort rausbekommen habe. Ich war ja wahnsinnig schüchtern. Den ganzen Abend hat er Operetten- und Trinklieder gesungen und Gedichte rezitiert und mich dabei angesehen.“ Sie seufzt: „Und was konnte der singen! Und was sah er toll aus!“ Gelernter Bäcker sei er gewesen. „Als Sohn eines Gutsbesitzers stand er aber auch bei den anderen Frauen hoch im Kurs: Es gab damals sogar das Gerücht, dass ihm ein Mädchen hinterherreist, aber alle haben gesagt, sie habe ein Musgesicht. Ich habe sie nie zu Gesicht bekommen.“
„Er war Bäcker. Bei der Bäckerkompanie der SS“
Ich bin verwirrt. „Sänger, Bäcker, Gutsbesitzer?“ Meine Oma lächelt: „Bäcker. Daher war er auch bei der Bäckerkompanie der SS.“ Ich frage ungewollt laut: „Der SS?“ Sie erklärt ungerührt: „Ja, aber doch nur in der Bäckerkompanie.“ Ich runzle die Stirn: „Was heißt da nur? Bei der SS war man freiwillig. Bäckerkompanie oder nicht.“ Sie überlegt kurz und sagt dann: „Nicht zwangsläufig. 1943 hat die SS auch noch zwangsrekrutiert.“ Und dann, so als sei es eine Entschuldigung: „Und in der Bäckerkompanie kam man nicht an die vorderste Front.“
Während ich nur entsetzt denke: „Ausgerechnet ein SS-Offizier!“, fährt sie auch schon fort: „Nach dem Abend hat er immer wieder angerufen und um ein Stelldichein gebeten. Meine Chefin hat schon eine Kriegshochzeit für uns geplant. Ich aber war so nervös, dass ich immer neue Ausreden erfunden habe, warum ich nicht kann.“
Sie schluckt. „Dann wurde seine Kompanie von einem auf den anderen Tag von Sichelberg nach Schröttersburg verlegt. Erst als er weg war, habe ich so wirklich gemerkt, was ich für ihn empfand.“ Eine Weile, sagt sie, sahen ihr Chef und seine Frau sich ihren Liebeskummer mit an, dann nahmen sie die Sache in die Hand und baten meine Oma, nach Schröttersburg zu fahren, um Erledigungen für sie zu machen: „Da stand er dann mitten auf der Straße und ich war so perplex, dass ich nur dummes Zeug von mir gegeben habe.“ Am Abend habe er sie zu einer Veranstaltung mitgenommen, bei der er als Sänger engagiert war: „Und wieder hat er immer nur mich angesehen. Da habe ich es erneut mit der Angst zu tun bekommen und bin gerannt.“
In den Wochen danach, erinnert sie sich, konnte sie nicht mehr schlafen und nicht mehr essen: „Ich war richtig krank.“ Ihr Chef machte die Feldadresse seiner Einheit ausfindig und drängte sie, sich zu erklären: „Er hat nie geantwortet. Entweder, dachte er, die kann hier nicht Kokolores spielen, oder mein Brief ist nie angekommen.“ Ungläubig frage ich: „Und du hast nie nach ihm gesucht?“ Meine Oma antwortet nachdenklich: „Doch, in den ersten Jahren schon, aber das war aussichtslos. Damals gab es ja noch nicht die technischen Möglichkeiten.“
„Er war ein Guter“
Ich hole meinen Laptop und frage sie nach seinem Nachnamen, seinem Geburtsjahr und seinem Heimatort, um zu sehen, ob ich im Internet etwas über ihn herausfinden kann. Meine Oma ist ganz aufgeregt: „Das könntest du? Da nachforschen?“ Ich gebe seinen Namen und SS in die Schlagwortsuche ein. Schon unter den ersten drei Treffern befindet sich eine polnische Liste von SS-Offizieren. Neben Namen und Geburtsdatum steht da: SS-Untersturmführer, 1945 befördert zum SS-Hauptsturmführer. Außer der Liste finde ich keine weitere Spur. Einsicht in die Akten von Archiven, recherchiere ich, bekommt man nur mit der Einwilligung Angehöriger.
Aufgewühlt erzähle ich meiner Oma von der Beförderung und ende: „Ich will gar nicht wissen, was er getan haben muss, dass er zu Kriegsende noch befördert wurde.“ Sie steht auf, beginnt die Bilder vom Tisch zu räumen und sagt energisch: „Ach was. Er war ein Guter, feinfühlig, talentiert. Der hätte keiner Fliege was zuleide getan.“ Und dann: „Sonst findest du nichts? Keinen Hinweis, ob er den Krieg überlebt hat?“ Ich bin sprachlos. Seine SS-Mitgliedschaft scheint sie überhaupt nicht zu tangieren. Dabei weiß sie so gut wie ich, dass man in den besetzten Gebieten kaum als Soldat der Waffen-SS sein konnte, ohne an schweren Kriegsverbrechen beteiligt zu werden. Wir haben oft miteinander über den Krieg gesprochen. Ich merke: Was diesen Mann angeht, ist mit ihr nicht zu reden. Sie möchte sich das Bild ihrer großen Liebe nicht zerstören lassen.
Sie geht in die Küche, um den Abwasch zu machen. Ich folge ihr, nehme mir ein Geschirrtuch und frage vorsichtig: „Und du hast nie wieder einen Mann getroffen, mit dem du dir eine Beziehung vorstellen konntest?“ Sie lächelt: „Doch, als dein Vater fünf war, habe ich noch einmal einen kennengelernt. Aber der hatte es nicht mit Kindern.“ Sie lässt Wasser in eine kleine Schüssel im Waschbecken laufen. Ich reiche ihr das Besteck und frage: „Warst du denn nie einsam?“ Sie verdreht die Augen: „I wo, ich hatte doch meine Arbeit, meine Familie, Freunde und Hobbys. Da waren viele meiner Freundinnen in ihren Ehen einsamer.“
Sie möchte mit seinem Taschentuch bestattet werden
In den folgenden zehn Jahren redet meine Oma mir gegenüber immer wieder von ihrer Kriegsbekanntschaft. Einmal frage ich sie, warum sie das nicht schon früher getan habe, und sie antwortet: „Ach, weißt du, ich habe ja jahrelang selbst nicht mehr daran gedacht: Ich war ja auch glücklich mit meinem Leben. Aber je älter ich werde, umso wichtiger wird die Erinnerung. Vielleicht, weil ich nicht mehr so viel erlebe. Vielleicht aber auch, weil es das einzige Mal war, dass ich so richtig verliebt war.“
Als meine Oma mit Ende 90 merkt, dass es mit ihr zu Ende geht, erzählt sie mir, dass sie in Gedanken fast nur noch bei dem Mann in Schröttersburg sei, und bittet mich dafür zu sorgen, dass sie mit seinem Taschentuch bestattet wird. Gegen Ende des Gesprächs sagt sie: „Ich würde so gerne noch erfahren, was aus ihm geworden ist.“ Ich setze mich erneut an den Laptop, gebe wieder seinen Geburtsort, sein Geburtsdatum und seinen Namen ein und dann, in einem plötzlichen Impuls, noch das Wort Bäckerei. Zu meinem Erstaunen finde ich eine Bäckerei mit seinem Nachnamen in seiner Geburtsgegend. Ich rufe an. Am anderen Ende ist eine Bäckereimitarbeiterin, die mir bestätigt, dass die Bäckerei ihm einmal gehört habe und nun im Besitz seiner Tochter sei. Ich schreibe der Tochter einen Brief.
Eine Woche später bekomme ich Post. Die Tochter antwortet, dass sie die Geschichte meiner Oma sehr rührend fand, und schreibt: „Über die Kriegsjahre meines Vaters weiß ich nur wenig. Er ist nach drei Jahren Gefangenschaft wohlbehalten nach Hause gekommen und hat ziemlich gleich meine Mutter geheiratet. Die beiden hatten eine gute Ehe und er war ein guter Vater.“ Mein Vater liest ihr die Zeilen vor. Am Abend frage ich sie am Telefon, was sie zu dem Brief sagt. Sie antwortet nur: „Dann ging es ihm also gut.“ In ihrer Stimme liegt ein Hauch von Enttäuschung. Vier Wochen später stirbt sie an den Folgen eines Infekts.
Als ich schließlich von ihrem Tod erfahre, bin ich so benommen, dass ich vergesse, meinen Vater an das Taschentuch zu erinnern. Seitdem bewahre ich es für sie unter meinem Bett auf: in einem alten Koffer mit Erinnerungsstücken.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott