Deutsche Erinnerungskultur im Wandel: Im Dialog dekolonisieren
Die Bedeutung postkolonialer Kritik wächst. Das ermöglicht und erfordert eine kritische Weiterentwicklung der deutschen Erinnerungskultur.
O b und wie in postkolonialen Debatten israelbezogener Antisemitismus auszumachen ist, wurde in den vergangenen Wochen kontrovers diskutiert.
Dass diese Debatte jetzt breit geführt wird, liegt auch an der zunehmenden Bedeutung postkolonialer Kritik. Wurde die Aufarbeitung unseres kolonialen Erbes über Jahrzehnte verdrängt, hat die Restitutionsdebatte in den vergangenen Jahren eine Tür geöffnet, durch die Stimmen postkolonialer Theoretiker*innen und Aktivist*innen vermehrt gehört werden. Das ist auch dem beständigen Engagement postkolonialer Initiativen zu verdanken, ohne welches das Bekenntnis zur „Aufarbeitung des Kolonialismus“ wohl kaum Eingang in den aktuellen Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD gefunden hätte.
Entgegen den Verlautbarungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist die Debatte über das Humboldt Forum und die Rückgabe von Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten zu Recht nicht bei einer „Sommerloch-Debatte“ geblieben. So hat der Restitutionsbericht von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr – eigentlich eine Handlungsempfehlung für den französischen Staatspräsidenten – auch in Deutschland hohe Wellen geschlagen.
Diese zunehmende Bedeutung des Postkolonialismus ermöglicht und erfordert eine Weiterentwicklung unserer Erinnerungskultur. Erinnerungskultur ist genuin dynamisch, sind die ihr zugrundeliegenden Narrative doch stets Gegenstand von Deutungskämpfen. Ein Wandel der Gesellschaft muss sich auch in einer Weiterentwicklung der Erinnerungskultur widerspiegeln. Gerade in einer Einwanderungsgesellschaft müssen wir der Frage nachgehen, wie aus vielen verschiedenen Perspektiven und Erzählungen ein gemeinsames Erinnern entstehen kann.
ist Mitglied der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Als stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Kultur und Medien ist sie zuständig für die Aufarbeitung des kolonialen Erbes. Sie ist Vizepräsidentin der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.
Fortwirken kolonialer Machtverhältnisse
Zweifelsohne muss die kritische Aufarbeitung der deutschen Kolonialherrschaft und der damit verbundenen Verbrechen eine bedeutendere Rolle einnehmen. Postkoloniale Asymmetrien können nur überwunden werden, wenn wir ein kritisches Bewusstsein über und einen Umgang mit unserem kolonialen Erbe schaffen. Demut und die Abgabe von Deutungshoheit der eurozentristischen Sicht sind dabei elementar.
Bei der fortgesetzten Suchbewegung nach einer angemessenen Erinnerungskultur ist das Sich-selbst-Hinterfragen ebenso elementar, wie Widerspruch konstruktiv aufzunehmen. Dekolonisierung kann nur im Dialog entstehen. Zu Recht weisen die Vertreter*innen des Postkolonialismus auf das Fortwirken kolonialer Machtverhältnisse in der Gegenwart hin; darauf, dass durch Kolonialismus und Imperialismus verfestigte Strukturen bis heute wirkmächtig sind.
Der aktuell kritisierte Philosoph Achille Mbembe hat eindrücklich gezeigt, dass der Kapitalismus der Gegenwart und der Kolonialrassismus – also der durch das koloniale Projekt hervorgebrachte und dieses System gleichzeitig stützende Rassismus, der sich gegen People of Color richtet und sich nicht zuletzt in der rassistischen Polizeigewalt zum Beispiel in den USA äußert – aufs Engste miteinander verbunden sind. Die nun geäußerte Kritik bezieht sich aber eben nicht auf diese Erkenntnis. Vielmehr steht dabei der antisemitische Antizionismus innerhalb des postkolonialen Diskurses im Vordergrund, der sich unter anderem durch die Unterstützung der BDS-Bewegung äußert.
Die Verdienste des postkolonialen Diskurses werden in keiner Weise geschmälert, wenn wir festhalten: Die kritische Aufarbeitung des kolonialen Erbes und die Überwindung von Kolonialitäten brauchen nicht den Rekurs auf Israel. Die wiederkehrenden polemischen Versuche, Israel als „Siedlerkolonie“ oder „rassistischen Apartheidstaat“ zu delegitimieren und zu dämonisieren, sind historisch falsch und ihnen muss aufs Schärfste widersprochen werden.
Der Staat Israel wurde 1948 als Refugium einer ethnisch-religiösen Gruppe gegründet, die in Europa über Jahrhunderte unterdrückt, verfolgt und während der Schoah industriell vernichtet wurde. Lange gab es die jüdische Präsenz in Palästina; „Eretz Israel“ ist die uralte Heimstätte der Jüd*innen, aus der sie mehrfach vertrieben wurden. Ein „arabisches Land Palästina“ gab es nicht. Durch die Gleichsetzung werden reale Siedlerkolonien von Kolonialmächten relativiert, wie sie etwa in Namibia („Deutsch-Südwestafrika“) und Südafrika aufgebaut wurden und dort das Ziel der Unterwerfung und Ausbeutung der lokalen Bevölkerung verfolgten.
Der „Apartheidstaat“-Vorwurf ist ebenso unhaltbar, verkennt er doch, dass Israel ein Rechtssaat ist, in dem jüdische wie nicht-jüdische Staatsbürger*innen die gleichen Bürger*innenrechte haben. Durch die Gleichsetzung wird auch hier ein über Jahrzehnte dauerndes rassistisches System in Südafrika relativiert, das auf ungleichen Rechten und diskriminierenden Gesetzen beruhte. Die Gleichsetzung der Staatsgründung Israels mit einem „kolonialen Projekt“ wird beiden Phänomenen nicht gerecht, sie ist gefährliche Geschichtsklitterung.
Inwieweit sich Postcolonial Studies und Antisemitismusforschung zukünftig produktiv aufeinander beziehen werden, ist im Moment noch nicht abzusehen. Eine zunehmende Wachsamkeit gegenüber strukturellem Antisemitismus wird die Bedeutung postkolonialer Kritik stärken. Wünschenswert ist ein vertiefter interdisziplinärer und öffentlicher Austausch allemal, weil so auch im politischen Raum ein notwendiger Selbstreflexionsprozess im Hinblick auf unsere Erinnerungskultur entstehen könnte. Gemeinsames Anliegen aller Beteiligten sollte es dabei sein, grundsätzlich Antisemitismus keinen Raum zu geben – weder israelbezogen noch sonst. Dieser Grundsatz stellt für mich eine wesentliche Prämisse, eine normative Orientierung der Erinnerungskultur dar, für die ich streite.
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