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Deutsch und/ oder jüdisch

Ein neues Lexikon nimmt sich der aktuellen Debatte in den Literaturwissenschaften an

von ANDREAS DISSELNKÖTTERund CLAUDIA ALBERT

Wer sich im Spannungsfeld deutsch-jüdischer Literatur bewegt, befindet sich in einem Netzwerk von Projektionen und Zuschreibungen, von Funktionalisierungen und latenten Vorwürfen. Das gilt auch für das „Metzler-Lexikon der Deutsch- Jüdischen Literatur“ und seinen Herausgeber Andreas B. Kilcher, der hier jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart zu versammeln sucht. Zwar zeigt seine Einleitung deutlich das Anliegen, die Frage nach der „deutsch-jüdischen Literatur“ im Zeichen der durch die Shoah mitbestimmten Möglichkeiten und Unmöglichkeiten jüdischen Schreibens neu zu stellen. Und dennoch wurden bei der Buchpräsentation im Münchner Literaturhaus Vorwürfe laut, damit besorge man womöglich das Geschäft einer völkischen Germanistik à la Adolf Bartels. Vielleicht sind solche Vorwürfe die Folge jenes freundlich-herablassenden Philosemitismus der westdeutschen Nachkriegsära, der einen erheblichen Teil an Selbstgerechtigkeit barg, der bis heute weiter wirkt.

Es war der Diskretion etwa Paul Celans zu verdanken, dass er die „humanistischen Phrasendrescher“ und „posthumen Betreuer jüdischer Gedankengänge“ nicht stärker kritisiert hat. So konnte gerade seine Lyrik zum Ort des „Unsagbaren“ werden, über das sich dann viel Weihevolles sagen ließ, ohne dass man hätte konkret werden müssen. Entschiedener urteilten etwa Arthur Eloesser und Siegmund Kaznelson, die beide 1959 das jüdische Schreiben in Deutschland für beendet erklärten und „abschließende“ Sammelbände publizierten. Es blieb der Generation von Autoren wie Maxim Biller oder Richard Chaim Schneider vorbehalten, das „Land der Täter und Verräter“ und seinen scheinbar projüdischen Konsens schärfer zu kritisieren.

Vielleicht sollte man das gesamte Gebiet weniger unter literarischen als unter politisch-psychologischen Aspekten betrachten? Der Versuch von Dieter Lamping 1998, das Feld „Von Kafka zu Celan“ zu vermessen und dabei das „Jüdische“ in der deutschen Literatur ausfindig zu machen, muss etwa nach einhelliger Auffassung der verschiedenen Rezensenten als gescheitert gelten. „Jüdische Themen“ sind in Kafkas Werken kaum zu finden, daher schwenkt der Mainzer Literaturwissenschaftler in seiner Arbeit zum „Jüdische(n) Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts“ auf die Tagebücher und die Schriften zum jiddischen Theater um – ein Analyseweg, der mehr vom Systemzwang als von philologischer Gewissenhaftigkeit zeugt. Hans-Otto Horch, der Inhaber des bislang einzigen Lehrstuhls für „jüdisch-deutsche Literatur“, befindet, dass so „den deutsch-jüdischen Autoren aufs Neue durch dogmatische Etikettierung ihrer Werke Gewalt angetan wird“.

Warum also trotzdem Andreas Kilchers Lexikon der Deutsch-Jüdischen Literatur – insbesondere, wenn der Texttypus schon von seiner Anlage her zu Auswahl und Etikettierung zwingt? Einer Auswahl, die die bloße Aufzählung einzelner, fehlender AutorInnen als Rezension keineswegs verdient (taz, 8./9. 7. 2000). Zum einen, weil jüdische AutorInnen seit dem 18. Jahrhundert ihre Existenz in Deutschland wie auch ihr Schreiben in deutscher Sprache (und eben nicht in Jiddisch, Anglo-Amerikanisch oder Hebräisch) zum Thema gemacht haben. Zum anderen, weil sich an den verschiedenen Haltungen zur viel beschworenen „deutsch-jüdischen Symbiose“, die ihrerseits ein Konstrukt aus Erwartungen und Enttäuschungen ist, die Spannweite einer bis heute geführten Auseinandersetzung ablesen lässt. Gerade die Zufälligkeit der alphabetischen Anordnung und die verschiedenen Schreib- und Denkstile der 90 Beiträger laden dazu ein, jenseits der schon oft bearbeiteten Zentren jüdischen Schreibens – Wien, Berlin, die Bukowina – den Blick auf die innerjüdische Diskussion deutschsprachiger Intellektueller zu richten.

Da illustriert dann etwa ein Blick auf sozialistische Autoren die Ent- und Verstellungen innerhalb des „antifaschistischen Konsenses“. Es wird viele LeserInnen wundern, Egon Erwin Kisch, Kurt Tucholsky, Anna Seghers, Stefan Hermlin, aber auch Klaus Mann in diesem Lexikon zu finden. Die kulturelle Elite der frühen DDR war in der Tat zu einem großen Teil jüdischer Herkunft, auch wenn sie dies nur indirekt oder gar nicht thematisierte – ein Sujet, das Barbara Honigmann oder Hans (jetzt Chaim) Noll seit den 80er-Jahren zur Sprache brachten. Die wenigen Beispiele machen deutlich: Judentum ist für deutschsprachige AutorInnen, insbesondere die getauften oder atheistischen, kein selbstverständlicher Besitz, sondern ein Spannungsfeld von Modernisierungs- und Entfremdungserfahrungen. Nicht zufällig beginnt eine Vielzahl von Artikeln mit Äußerungen der Art: „Eigentlich bin ich Jude bloß, weil die anderen mich dazu gemacht haben, Hitler und die von ihm Erzogenen“ – so der Wiener Robert Schindel. Die dritte Erkenntnisdimension des Lexikons liegt also darin, dass die enge Verknüpfung von deutsch-jüdischer Kultur und Moderne deutlich wird. Nach zwei Jahrhunderten gescheiterter Versuche, „sich ganz dem Volke zu vereinen“, so 1898 Ludwig Geiger, erscheint jüdisches Schreiben in Deutschland immer als eines „am Rande“, aus dem Bewusstsein einer aufgezwungenen Differenz. Über die sehr groben Einteilungen nach Generationen und die irreduzible Grenze der Shoah hinaus stehen daher im Mittelpunkt des Lexikons „selbstreflexive Standortbestimmungen singulärer Schreibakte“. Dass so die Konturen des „Jüdischen“ unscharf werden, ist ein zu erwartender Effekt des Unternehmens. Seine Informationen zu vernetzen und dabei womöglich Lücken und Defizite ausfindig zu machen – das ist die produktive Umgangsform, zu der Kilchers anspruchsvolles Unternehmen einlädt.

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