■ Auf Augenhöhe: Der verrückter Bundesadler
Meine Augenärztin heißt Isolde und interessiert sich auch für Politik. Neulich beim Sehtest fragte sie mich nach meiner Meinung zum Holocaust-Mahnmal, und ich wußte nicht, worauf ich mich mehr konzentrieren sollte: die immer kleiner werdenden Buchstaben- und Zahlenkolonnen oder eine mich zufriedenstellende Antwort. Allein, Isolde war schneller. Mit jeder Probelinse, die sie mir vorschob, probte sie einen anderen Blick auf die Debatte, philosophierte über die Mahnmalkultur im allgemeinen und die der Bonner im besonderen und diagnostizierte am Ende eine Hornhautkrümmung, was ich zunächst für eine gelungene, weil nicht erwartete Pointe der Mahnmalsdiskussion hielt.
Ob Wolfgang Thierse auch eine Hornhautkrümmung hat, weiß ich nicht. Vielleicht hätte ich ihn gestern fragen sollen, als er, ganz rotgrüner Bundestagspräsident, den neuen Wappenadler im Reichstag enthüllte und ebenfalls pointiert davon sprach, daß das Symboltier so friedlich sei, wie ein Adler nur sein könne. Und während ich noch dachte, daß er auch hätte sagen können, friedlich, wie ein Scharping nur sein könne, legte der Kuschelbär vom Prenzelberg noch einen drauf und versprach, daß es keinen Grund zur Angst vor einem Wiedererwachen des preußisch- deutschem Militarismus gebe.
Noch bevor ich mich an Herrn Thierse heranpirschen und ihm eine politische Sitzung bei meiner Augenärztin empfehlen konnte, sah ich durch die neue Brille: der Mann hat recht. Von diesem Adler geht tatsächlich nie wieder Krieg aus. Dieser Adler will nur eins: gehätschelt und getätschelt werden.
Später dann, in der Redaktion, wollte ich es genauer wissen, nahm den Stadtplan zur Hand und folgte durch die Mauern des Reichstags hindurch dem Adlerauge. Und wirklich: Nicht die Siegessäule, das Symbol des preußischen Militarismus, streift sein Blick, sondern die Charité, die „Barmherzige“, jene Klinik, die Friedrich I. im Jahre 1709 errichten ließ, als die Kunde von der nahen Pest die preußische Garnison erreicht hatte. Nachdem der Hochschulredakteur unter seinen Papierbergen den Lageplan der Charité gefunden hatte, wurde die Blickfeldrecherche des Bundesadlers schließlich maßstabsgerecht. Das per Lineal verlängerte Adlerauge schaut exakt auf das Gebäude S-NP der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität, hinter dem sich, laut Abkürzungsverzeichnis, die Abteilungen Neurologie und Psychiatrie verbergen. Daß es dem Tierchen so schlecht ging, hatte ich nicht erwartet. Wenn das der Thierse wüßte.
Aber dann war mir klar, daß es so kommen mußte, daß der von Bonn nach Berlin verrückten „fetten Henne“, auch wenn sie ein neues Gewand bekam, gar nicht anderes übrigblieb, als den Blick der Barmherzigen zu suchen. Hühnerauge, dachte ich bei mir, sei wachsam. Wenn der Thierse das merkt, dreht er dir noch den Kopf rum. Uwe Rada
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