: Der letzte Gerechte
■ Taugen Stasi-Akten als Romanstoff? Jürgen Fuchs setzt sich in "Magdalena" auch mit der Gauck-Behörde kritisch auseinander. Ein Gespräch mit dem Bürgerrechtler über Täter und Opfer, Demokratie und die Sprache der Macht
taz: Zur Leipziger Buchmesse erscheint Ihr Roman „Magdalena“ – einst ein Begriff für den Stasi-Knast in der Magdalenenstraße in Berlin-Lichtenberg. Im Untertitel nennen Sie: „VEB Horch und Gauck“. Wie ist dieses nicht „Horch und Guck“, sondern „Horch und Gauck“ zu verstehen?
Jürgen Fuchs: Das Buch ist der Versuch einer künstlerischen Bewältigung dieses Themas. Der Untertitel besteht aus mehreren Worten: MfS. Memfisblues. Die Firma... Wir haben mit Wolf Biermann in der Küche gesessen, ein bißchen rumgeflachst und gesagt: Ja ja, eigentlich sind wir alle Mitarbeiter des Horch und Gauck. Es ist gar nicht diese gallebittere Gleichsetzung. Überhaupt nicht.
In „Magdalena“ geht es um Diktaturen und Geheimdienste. Aber das Buch greift auch in die Gegenwart.
Ich habe ja diese Zeit nach 89 erlebt: Bürgerkomitees, die Schränke und Panzerschränke aufgerissen haben und eine ganz tolle Öffnung und Demokratisierung versucht haben, in dieser kurzen, revolutionären Zeit. Dann setzte das ein, was ich die Mechanismen von deutscher Verwaltung nenne. Ist das ein angemessener Umgang mit diesen Dokumenten, mit krassen Menschenrechtsverletzungen? Ich sage: eher nein! Wobei ich in dieser Behörde einige getroffen habe, die das sehr gut machten. Auch sie kommen vor im Buch. Ich benutze eine Art Rückspiegel. Unsere Gegenwart kommt doch nicht von ungefähr. Die Stasi, deutsche Geschichte, zwei Diktaturen, angezettelt gegen Menschen, zwei Weltkriege, das mußte doch Spuren hinterlassen. Diese Bezüge sind für mich das Aufregende gewesen. Das Buch ist eine längere Prosa in drei Teilen: „Die dünne Akte“, „Reiter auf Vorgängen“, „Brocken aus nichts“. Die dritte Überschrift ist ein Zitat von Primo Levi. Er, der Auschwitz überlebte und darüber schrieb, ist im Buch ein fiktiver Diskussionspartner.
Sie zwingen die Leser in die Sprache der Akten und führen so Diktatur vor. Sie nennen Namen von Freunden, Namen aus Ihrer Familie, von Gauck-Mitarbeitern, ehemaligen inoffiziellen und hauptamtlichen Mitarbeitern der Stasi. Sie setzen eigene, zum Teil drastische Erfahrungen dagegen und nennen das Ganze „Roman“. Ist „Magdalena“ ein Roman?
Es gibt einen Ich-Erzähler, der sich herumschlägt mit verschiedenen Dingen, mit Erlebnissen. Da sind auch Stimmen, die ihn attackieren. Da ist eine „Knaststimme“ zum Beispiel, da sind fiktive Teile, auch Dokumente. Über allem steht eine große Auseinandersetzung und der Versuch, im Persönlichen ebenfalls weit zu gehen. Die Stasi ist brutal weit gegangen, auch in ihren Details. Da dachte ich, es geht nicht anders, wir müssen auch weit gehen. Fast als Fluch oder als Zwang. Ich habe Assoziationen dagegengesetzt, gegen die Verbrechersprache, auch gegen diese Ordnungs- und Bürosprache heute: im deutschen Hintergrund LTI und LQI, Lingua Tertii Imperii und Lingua Quartii Imperii. Meine Literatur will stören, auch verstören. Man erwartet von Literatur vielleicht überhaupt nicht mehr die Inanspruchnahme von individueller Freiheit. Ich will, daß Kontroversen ausgetragen werden. Gerade wir in Deutschland haben einen großen Nachholbedarf an toleranter, vielfältiger Auseinandersetzung. Es geht doch nicht darum, was wem schadet. – Ob es Robert Havemann schadet, der eine wichtige Person der 20. Jahrhunderts ist, daß ich ausgerechnet seine Stasi-ausgespähte Krankengeschichte oder seine IM- Tätigkeit erwähne. Oder Joachim Walther, der mit „Sicherungsbereich Literatur“ ein wichtiges Buch geschrieben hat, der aber gegen Hans Joachim Schädlich einmal den Willen des Zensors ausgeführt hat. Schadet es dem Autorenkreis der Bundesrepublik, dessen Vorsitzender er ist, wenn ich dorthin eingeladen werde? Demokratie lebt von Infragestellung. Nicht von Subalternität und dem „pluralis majestatis“. „Wir“, sagt Gauck. „Meine Behörde und ich“.
Im Januar sind Sie aus dem Gauck-Beirat ausgetreten. Kann man das als PR-Strategie für Ihr Buch interpretieren?
Es gibt eine ganze Mappe mit Briefwechseln, Eingaben, Nachfragen. Es gibt eine geduldige, brave Beirats- und Versammlungsarbeit von mir. Fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Ich arbeite auch als Kinder- und Sozialpsychologe und habe teilweise in Zusammenarbeit mit amnesty international Fälle von Folteropfern begleitet. Ich habe im Gauck-Beirat mehrfach darauf hingewiesen, daß Häftlinge, politisch Traumatisierte, die Zersetzung erlebten, mit einer Retraumatisierung reagieren können, wenn sie wieder den Ausweis abgeben müssen. Oder sie sind entsetzt: Was, da arbeiten Täter drin, Offiziere der Staatssicherheit, die sich vielleicht an Aktionen gegen Andersdenkende beteiligt haben! Die lesen jetzt meine Akten! Ich habe, als sich Gaucks Stellvertreter, Herr Dr. Geiger, zum Chef des BND berufen ließ, mehrfach thematisiert, daß hier Grenzen überschritten sind. Das wäre in der ersten Zeit der Arbeit der Bürgerkomitees nie akzeptiert worden. Ich habe gesagt: Hier nimmt jemand Akten mit, im Kopf sozusagen. Und wieder müssen wir vertrauen! Bei diesem Thema! Skandalös! In allen Opferakten hocken auch andere Namen mit drin. Plötzlich wurde gemunkelt, Geheimdienste gingen unter Ausschluß der Öffentlichkeit in diese Akten hinein, ohne Wissen der Betroffenen. Es hieß, das seien notwendige Vorgänge, über die dürfe man jetzt nicht sprechen. Meine Anfragen und Einsprüche, die andere, zum Beispiel Altbischof Heinrich Rathke, ähnlich stellten, wurden mit einer Bilanz beantwortet, so daß ich sagen muß, es hat wenig genützt. An dieser Stelle muß ich Öffentlichkeit herstellen. PR sind die Fakten, die Wirklichkeit. Ich habe es überhaupt nicht nötig, PR-Termine zu machen. Das ist alles zu kurzfristig gedacht. An dem Manuskript arbeite ich seit 1989. Ich konnte nicht absehen, in welcher Weise sich die Situation in der Behörde zuspitzt. Aber ich bin froh, unter diesen Umständen ein Manuskript vorgelegt zu haben, in dem die Betroffenen- und Häftlingssicht deutlich wird.
Haben Sie keine Bedenken, daß Sie den Befürwortern der Aktenschließung in Ost und West Argumente liefern? Es war bereits zu lesen: „Fuchs sagt es nicht, aber es klingt deutlich mit, die Gauck-Behörde, das ist die Fortsetzung der Stasi mit anderen Mitteln.“
So habe ich das nicht gesagt. Das stand im Tagesspiegel (19.2. 1998), nachdem ich im Literarischen Colloquium gelesen habe und dort mit Wolf Biermann und Manfred Jäger diskutierte. Was ich gesagt habe, war sicher keine Polemik für das Aktenschließen oder gegen das Öffentlichmachen von Verbrechensdokumenten. Im Gegenteil. Ich wende mich dagegen, daß ein Ausbremsen der Revolution, ein verkompliziertes, zunehmend geschwärztes, zunehmend devensives Verhalten mit diesen dokumentierten Menschenrechtsverletzungen eingegangen wurde.
Was Sie in der Frage ansprechen: Gibt es einen Beifall von der falschen Seite? Muß ich aufpassen, mit dem, was ich literarisch schreibe, damit es die Gegner nicht ausnutzen können? Dazu sage ich ganz klar und in der Tradition von Manés Sperber, den ich noch kennengelernt habe: Selbstverständlich gehören die Wahrheit oder auch die Fakten oder auch das Recht, sich subjektiv zu äußern, gar keiner Seite. Warum soll es nicht vorkommen, daß Menschen, die uns politisch fern stehen, aus einem anderen Kulturkreis kommen, eine andere Religion haben, bessere Fragen und bessere Antworten finden? Das Buch hat 520 Seiten. Da möchte ich mal sehen, wie man das so schnell auf wenige Wörter verkürzen kann.
Aber ist die Gauck-Behörde nicht, dank der in ihr beschäftigten früheren Bürgerrechtler, vergleichsweise transparent?
Ich sehe das nur zum Teil. Ich habe ja nun den Vor- oder Nachteil, daß ich als Häftling die Stasi- Bearbeitung in diesen Räumen kenne und daß ich nach 1990 den Aufbau der Behörde erlebt habe. Nein, ich bin der Meinung, daß die Bilanz nicht durchweg positiv gezogen werden kann. Das wäre Beweihräucherung, neue Ideologiebildung. Es ist ganz und gar nicht angebracht, in großen Tätigkeitsberichten herauszustellen, was man geleistet hat. Es ist viel wichtiger, auf die großen Konfliktthemen hinzuweisen.
Welche zum Beispiel?
Zum Beispiel, daß man einen großen Berg von zerschnipseltem Material hat, an dem die kleine engagierte Gruppe in Zirndorf, wie eine Einschätzung besagt, noch 350 Jahre zu puzzeln hat. Man
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weiß, das sind ganz wichtige, auch sehr brisante Täterakten mit Bezügen zur Bundesrepublik und anderen westeuropäischen Ländern. Da frage ich mich doch, wie wird hier moderne Technik genutzt? Das Fraunhofer-Institut, möglicherweise auch andere, sind sehr weit im Erfassen und Zusammensetzen optischer Eindrücke. Ich bin der Auffassung, ohne Einschränkung: Diese Aktenöffnung ist richtig, muß sein, sie gilt generell für alle geheimen Teile von Bürokratie und Administration, weil Geheimwissen Übermacht darstellt. Bei der ersten Anhörung zum Stasi-Unterlagengesetz saß neben mir Reiner Kunze und hinter mir BND und Bayrischer Verfassungsschutz. Als gefordert wurde, daß auch die geheimdienstlichen Methoden des MfS dargestellt werden müßten, um der Welt zu zeigen, was ein Geheimdienst alles pervertieren kann, hörte ich ihr Zwischenreden: Was soll das! Das erschreckt doch nur die Leute. Natürlich müssen wir geheimdienstliche Methoden anwenden. Was sollen denn die Leute mit diesem Wissen? In dieser Dimension möchte ich, daß man sich dem Thema stellt und nicht in billigen Gleichsetzungen.
Beim Lesen von „Magdalena“ entsteht der Eindruck, die Gauck- Behörde sei wesentlich mit ehemaligen inoffiziellen und hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS durchsetzt. Zeichnen Sie da nicht ein verzerrtes Bild?
Solchen Menschen begegnete ich ja. Ich habe ganz verschiedene Gesichter vor mir, Menschen aus den Bürgerkomitees, die ich in der Zeit der Öffnung in Gera kennenlernte. Auch Häftlinge, die Akteneinsicht beantragten. Und dann begegnet einer wie ich diesen Tätern. Das stelle ich natürlich heraus, weil gerade diese Begegnungen für mich sehr aufregend waren. Wurde eigentlich einmal ausdiskutiert, nach welchen Kriterien welches Personal eingestellt wurde? Darf man diese Fragen nicht stellen, diese Gefühle nicht zulassen?
Fürchten Sie nicht, den Eindruck zu erzeugen, Sie hielten sich für den letzten Gerechten?
Der letzte Gerechte könnte ein hübscher ironischer Titel sein, für das nächste Kapitel, für ein neues Buch. Ich kann keinen Diskurs erwarten, wenn das, was ich schreibe, nicht in Frage gestellt werden könnte. „Magdalena“ ist natürlich auch eine Auseinandersetzung mit mir selbst, mit meiner Familie, auch mit Verhaltensweisen im Gefängnis, in dunklen Stunden, auch der Schwäche. Es gibt eine Situation während der Schulzeit, als ich fast etwas über einen Lehrer berichtete, das ihm hätte schaden können. Es werden Begegnungen mit Freunden geschildert, in denen ich sehr viel in Frage stelle. Ich nenne es die „Schriftenvergleichskartei meiner Seele“. Ich versuche zu schildern, wie unterschiedlich, wie zerrissen, wie widersprüchlich man durch so eine Zeit kommt. Ob ich der letzte Gerechte und im Besitz der absoluten Wahrheit bin? Um die Frage zu beantworten, muß man nur einige Seiten gelesen haben. Dann darf gelacht werden.
Gibt es eine Zielgruppe, an die Sie beim Schreiben denken?
Na ja, „Zielgruppe“, das ist ja ihr Begriff. An wen sich's richtet? Zuerst richtet es sich an, sagen wir, unsere Leute. An Leute, die Menschenrechtsverletzungen erlebt haben. Und an alle, die mehr wissen wollen und für die der internationale Menschenrechtsdiskurs etwas bedeutet. An alle, die die Weltsprache Literatur interessant finden. Bei der Debatte um das „Lauschen“ sagte ein hoher Polizeivertreter neulich: „Es ist notwendige Technik“, so solle man das nennen! Technik, Maßnahme 26A, 26B. Das ist Orginalton Stasi. In diese Atmosphäre, die auch Gegenwind benötigt und verträgt, stelle ich „Magdalena“. Da werfe ich schon einen Brocken hin. Das will ich. Interview: Udo Scheer
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