Der deutsche Krieg in Afghanistan: Die verweigerte Analyse
Erst diente der Schutz der Menschenrechte als Rechtfertigung für die deutsche Präsenz in Afghanistan. Doch nun ist die Verbindung zwischen Militär und zivilem Aufbau endgültig gerissen.
E rleichtertes Aufatmen? Endlich ein fester Termin für den Abzug des deutschen Kontingents aus Afghanistan? Nach dem Willen der Bundesregierung sollen 2011 die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass 2011/12 mit dem Abzug begonnen und er 2014 beendet wird. Aber dieser scheinbar so klare Terminplan steht unter Vorbehalt.
Im "Fortschrittsbericht" der Bundesregierung heißt es, die Regierung "beabsichtigt, einzelne, nicht mehr benötigte Fähigkeiten, soweit die Lage dies erlaubt, ab Ende 2011/12 zu reduzieren". Diese nebulöse Formel ermöglicht es, die Gegner der Intervention, also die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung, zu beruhigen und gleichzeitig das Ende des Einsatzes völlig offenzuhalten.
Jahrelang galt jeder, der das Wort "Exit" in den Mund nahm, den Verantwortlichen in Afghanistan als Verräter. Erst dienten der Schutz der Menschenrechte und die Hilfe beim "Nation building" als Legitimation für die deutsche Präsenz. Von diesen hehren Zielen war nach einigen Jahren nicht mehr die Rede. Es ging nur noch darum, "stabile Verhältnisse" in der Region zu schaffen. Aber in welchen Zeitraum? Erst war von dreißig, dann von fünfzehn Jahren die Rede. Jetzt also sollen vier Jahre reichen. Und dann: Präsident Karsai, übernehmen Sie!
Doch wie es aussieht, führt kein Weg dahin. Für das dritte Quartal des Jahres 2010 werden 9.031 Angriffe der Taliban-Streitkräfte gemeldet, 59 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum 2009. In Teilen des deutschen Operationsgebietes im Norden Afganistans läuft ein Guerillakrieg, in fünf der sieben Distrikte der Provinz Kundus, die als vollständig befriedet galt, üben die Taliban die Kontrolle aus.
Dabei sollte das Jahr 2010 die große Wende bringen. Die USA schwangen den Befehlsstab und Präsident Obama verkündete eine neue Strategie, der nach Täuschung der Deutschen sich im Februar 2010 die übrigen Nato-Staaten anschlossen. Kernpunkt war die Counter-Insurgency-Strategie (Coin). Mit einem verstärkten Truppeneinsatz sollten bislang von den Taliban gehaltene Gebiete besetzt und von feindlichen Streitkräften gesäubert werden. Fortdauernde Truppenpräsenz sollte die Bevölkerung schützen und durch zivil-militärische Aufbauarbeit sollte ihr Vertrauen gewonnen werden.
Dass Coin trotz einer Reihe von Anfangserfolgen erfolglos blieb, war vorhersehbar. Für eine effektive militärische Kontrolle war die Interventionsarmee viel zu schwach. Und die Mehrheit der "befreiten" afghanischen Bevölkerung war teils abgestoßen von den kriminellen Methoden der alliierten Kriegsführung, teils eingeschüchtert durch den Terror der Taliban. Für das deutsche Kontingent aber galt, dass es von einer defensiv operierenden Schutztruppe zum Bestandteil einer Armee der offensiven Aufstandsbekämpfung wurde. Es war damit verstärkt den Schlägen der Taliban ausgesetzt.
Die Bundesregierung tut ihr Bestes, um der deutschen Bevölkerung vorzutäuschen, sie habe klare Vorstellungen von den Zielen der Afghanistan-Intervention und ein realistisches Bild von den Bedingungen des Rückzugs. Das Gegenteil ist der Fall. Weder die rot-grüne noch die schwarz-gelbe Koalition haben je den Versuch unternommen, eine ungeschminkte Analyse der Lage in Afghanistan vorzunehmen und, auf ihr basierend, ein klares Ziel ihrer Intervention zu benennen. Wie sollen sie aussehen, die "stabilen Verhältnisse", und wann ist Stabilität erreicht?
Zwar wurde in der Propaganda stets die Bedeutung des zivilen Aufbaus hervorgehoben, tatsächlich aber genoss das Militär immer absoluten Vorrang. Das zeigte sich auch in der Verteilung der Mittel. Mit dem Übergang zur Aufstandsbekämpfung im Jahr 2010 ist die Verbindung zwischen Militär und zivilem Aufbau endgültig gerissen.
Bleibt das Argument, das Schlimmste, eine erneute Machtergreifung der Taliban, müsse verhindert werden. Das aber setzt Einsicht in die Realität, sprich Verhandlungen unter Einschluss der Taliban voraus. Die Bundesrepublik verschließt sich dieser Einsicht. Propagandistisch winkt sie mit dem Abzug, um sich in der Praxis der bisherigen amerikanischen Durchhaltestrategie anzuschließen.
Kann sie dieses Täuschungsmanöver gegenüber der eigenen Bevölkerung auch 2011 durchhalten? Kann sie Afghanistan aus den vielen kommenden innerdeutschen Wahlkämpfen heraushalten? Daran ist zu zweifeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei