: „Der alte Kohn war hier praktisch pleite“
■ Wie der Rotenburger Heimatbund sich der Vertreibung der Juden erinnert
Seit Wochen schwelt in Rotenburg an der Wümme ein Streit um die Erinnerung an die nationalsozialistische Verfolgung der jüdischen Mitbürger. Ein Artikel in den „Rotenburger Schriften“ des „Heimatbundes Rotenburg/Wümme“ erschien zunächst als eine missglückte Bemühung, die Vergangenheit zu bewahren. Nun offenbart er sich jedoch als ein revisionistischer Versuch, die Geschichte der Verfolgung der Rotenburger Juden umzuschreiben.
Gelenkt durch die Fragen von Gernot Breitschuh, Vorstandsmitglied des Heimatbundes und Schriftleiter der Vereinsschrift, erinnern sich in den „Rotenburger Schriften“, Heft 87/2000, sechs „ältere Mitbürger“ an die Nachkriegsjahre. Bei der Frage „Gibt es eigentlich Anekdoten, lustige Erlebnisse aus jener Zeit“, schweifen sie ab und erwähnen „Wir haben hier ja keine Juden gehabt außer Kohn (Name im Original falsch geschrieben, d.A.) und Heidelberg, äh ... Heilbronn“. Die jüdischen Kaufleute Cohn seien „in Berlin umgekommen“. Einem anderem fällt ein: „Der alte Kohn ist nach Süddeutschland gegangen, nach Freiburg oder so. Denn hier war der ja praktisch pleite“.
Kaum war die Schrift der 1000 Mitglieder großen „Kreisvereinigung für Heimat- und Kulturpflege“ erschienen, kam Empörung auf. Denn das Schicksal der Cohns ist in Rotenburg bekannt und mit der Errichtung des Mahnmals für die Opfer des Nationalsozialismus am Rathaus der Kreisstadt 1989 aufgearbeitet. Die jüdischen Kaufleute Hermann und Gertrud Cohn flohen nach dem Boykott und der Enteignung ihres Kaufhauses nach Berlin, wo man im Februar 1943 Gertrud mit dem 31. und Hermann mit dem 33. Osttransport nach Auschwitz deportierte. Am 3. März wurden sie für tot erklärt.
„Niemand wollte die Geschichte verharmlosen“ beteuerte Breitschuh sofort und versprach für die nächste Ausgabe einen Artikel über die „Juden in Rotenburg“, verfasst von der Gästeführerin Sigrid Peters, zu veröffentlichen.
Erst als die pensionierte Grundschullehrerin den Beitrag, für die jetzt erscheinendene Ausgabe, abgab, erfuhr sie, dass der Heimatbund bereits im April beschloss „keine weiteren Beiträge zu dem Thema“ zu veröffentlichen. „Der Vorstand befürchtet eine öffentliche Auseinandersetzung“, begründet die Heimatbund-Vorsitzende Sarina Tappe die Ablehnung: „Wir wollen unsere Mitglieder auch nicht verärgern“. Außerdem gäbe es „verschiedene Versionen von dem Schicksal der Cohns“, betont Tappe: „Verwandte, die auch in Auschwitz gestorben sein sollen, wollen noch letztes Jahr Touristen in Kanada gesehen haben“. Auch Breitschuh hält eine „Richtigstellung“ nun nicht mehr für nötig. Das sind „Erbsenzählereien“ meint der pensionierte Schulrat. „Das ist die oral history“, rechtfertigt der promovierte Historiker seinen Beitrag, „und die ist immer subjektiv“. Dies teilt Roswitha Sommer, Geschäftsführerin des Niedersächsischen Heimatbund, dem die Kreisvereinigung angehört. Aber genau „deshalb müssen Irrtümer immer richtig gestellt werden“, erklärt die Historikerin: „Wie konnte einem so erfahrenen Pädagogen dieser Fehler unterlaufen“. Vielleicht weil er ebenso meint: „Niemand weiß wirklich was mit der Familie geschah“.
An dem Schicksal der Cohns gibt es nichts zu deuteln, betont der Rotenburger Stadtarchivar Dietmar Kohlrausch, auf dessen Forschung Peters sich bezieht. Mittlerweile ist die Geschichtsrelativierung durch dem Heimatbund zum Stadtpolitikum geworden. „Kennt der Heimatbund nicht die eigene Geschichte“ fragt Hedda Braunsburger (SPD), Vorsitzende des Kulturausschusses der Stadt, und fordert „die 14.400 Euro Förderung des Vereins sollten mit einem Sperrvermerk versehen werden“. Bis es zu einer Richtigstellung der Tatsachen in den Rotenburger Schriften gekommen sei. „Die Behauptung, es gebe verschiedene Versionen zur Geschichte der Cohns, ist absurd und erschre-ckend“, meinte der Pressesprecher des Kreisverbandes der Grünen, Friedhelm Horn: „Dies Verhalten kann nur als Versuch verstanden werden, den Holocaust zu verharmlosen“. Andreas Speit
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