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Der Zeichner und Wirt Michel WürthleWest-Berlin, ein Wüsteneldorado

Seit 1979 ist Michel Würthle Wirt der Paris Bar in Berlin-Charlottenburg. Seine Zeichnungen erzählen vom fröhlichen Leben in West-Berlin.

„Are you prepared for the winter of your life?“. Selbstporträt Michel Würthles, Ausschnitt Foto: the artist. Contemporary Fine Arts

Der Zufall wollte es, dass ich an einem lauen Sommerabend Michel Würthle an einem der Tische vor der Paris Bar gegenüber saß, ohne zu wissen, wer er war. Die obersten drei Knöpfe seines Hemds standen offen, in der Hand immer eine Zigarette. Eine Weile blieb sie unangezündet, wartete auf ihren Moment, dann qualmte sie. Wie er die Gäste begrüßte und dass er Michel gerufen wurde, ließ bald keinen anderen Schluss zu, als dass es sich um den Wirt handelte.

Wir unterhielten uns über Gott und die Welt, und weil Würthle beim Sprechen zwischen einem gepflegten Wienerisch und einem wienerisch gefärbten Hochdeutsch changiert, auch über Falco, mit dem er im Rinnstein vor der Paris Bar ein Jahr vor dessen Tod gesprochen hat. Es war ein schönes Gespräch, weil Würthle ein offener, wacher und aufmerksamer Mensch ist.

Die Paris Bar an der Kantstraße in Charlottenburg ist ein legendärer Ort. Wegen der Künstler und sonstigen Kulturados, wie Würthle sie nennt, die hier seit 1979 ein- und ausgehen. Wegen der Kunstwerke, die Künstler hinterlassen haben und die Würthle an den Wänden zu einem dichten Teppich verwoben hat. Als Dekoration begreift er die Hängung, alles andere wäre den Kunstwerken gegenüber blasphemisch, sagt er.

„Am Anfang, bis die Paris Bar von Südost bis Nordnordwest vollgehangen ist, hat es viele Widerstände gegeben. Was soll da diese Scheiße an der Wand? So hat es über dieses oder jenes Kunstwerk geheißen. Das war für meinen Charakter geradezu eine Aufforderung, dass ich richtig liege. Was heißt richtig, ich will auch nicht richtig oder falsch liegen. Sind alles dahin gesagte Kriterien. Das war mir ein Antrieb. Eine Bewunderung zu gewissen anarchischen Tendenzen in der Kunst und der Literatur war immer bei mir da, und das geht auch nicht weg.“ Allerdings sehe er die heute nicht mehr, bloß in verwässerter Form.

Würthle spricht leise, langsam, fällt sich immer wieder selbst ins Wort. Es geht ihm um Präzision, Klischees kann er offensichtlich nicht ausstehen.

Zugänglich und rätselhaft

Ein paar Wochen später traf ich ihn wieder in den Räumen der Galerie Contemporary Fine Arts, zwischen Zeichnungen, die Fabrice Herrgott aus dem Œuvre Würthles anlässlich von dessen bevorstehendem 75. Geburtstag ausgewählt und zu sieben Kapiteln zusammengestellt hat.

Eine Bewunderung zu gewissen anarchischen Tendenzen in der Kunst und der Literatur war immer bei mir da, und das geht auch nicht weg, sagt Würthle

Die Zeichnungen sind so zugänglich wie rätselhaft. Würthle zeichnet Szenen, Menschen und Landschaften, er übersetzt Erlebnisse in Allegorien und Bilder. Sie sind meist mit Texten versehen, in denen der Künstler das Gezeichnete kommentiert, ergänzt und Überlegungen über die Welt anstellt, in der er sich wiederfindet. Man kann an ihnen sehen, dass das Werk von George Grosz ein künstlerischer Bezugspunkt Würthles ist.

Die Zeichnungen sind ein Tagebuch

„Die Zeichnungen sind ein Tagebuch“, sagt Würthle. Bruno Brunnet hatte ihn 1993 aufgefordert, für eine Galerieausstellung in Köln neue Zeichnungen herzustellen. Bestärkt darin, wieder mit dem Zeichnen anzufangen, haben Würthle unter anderem seine Künstlerfreunde Dieter Roth und Martin Kippenberger. Seither hat er nicht wieder mit dem Zeichnen aufgehört. Wichtig war und ist ihm die Anerkennung von Leuten, die er als Künstler schätzt.

Würthle hat Momente aus der jüngeren und Erinnerungen an die fernere Vergangenheit festgehalten. Die Zeichnungen erzählen Episoden aus Würthles Familiengeschichte, sein Großvater war Kunsthändler, sie sind Künstlerfreunden gewidmet und sie verweisen auf andere Kunstwerke, Literatur und Filme.

Eine ganze Serie gilt dem Western, den Würthle und die anderen Wiener Kinder seiner Generation geliebt haben, nicht wegen der oft biederen Inhalte, sondern wegen der Art, „wie sich die Amerikaner zu bewegen wussten, was das ausgelöst hat. Die Amerikaner ham uns befreit in Omaha Beach und a Woch’n später hat’s Kaugummi geben und Lucky Strike, und drei Jahre später den amerikanischen Western.“ Es herrschte in Österreich Jugendverbot für diese Filme, wohl weil „die oiden Faschisten und Dodln“ sie für amerikanischen Schund und Schmutz hielten.

Auf einem anderen Blatt findet sich eine Hommage an Würthles „charismatischen Lehrmeister“ Konrad Beyer, der sich 1964 das Leben nahm. Das Blatt zeigt das Porträt eines weiß geschminkten oder vielleicht totenblassen Bayer. Würthle hat ihm das Foto einer jungen Schönen beigestellt. Im Gespräch beschreibt er Konrad Bayer als Schamanen, immer auf der Suche nach Liebesabenteuern, wobei er seinen jugendlichen Freund Michel „für scoutische Arbeiten“ einsetzte.

Eine seltsame Bande

Bayers Exzessforschung kann man gut nachvollziehen, wenn man einen Blick in seine Schrift „Die klare Zeit“ wirft. Darin hat Bayer auch ein Motto formuliert, das Würthle später in einer Zeichnung verwendet hat: „Erstens will ich fröhlich sein, zweitens mich vergnügen.“ Konrad Bayer war es auch, der Würthle in den Kreis um die Wiener Gruppe einführte, eine Vereinigung von Literaten und Künstlern, die im res­taurativen Nachkriegsösterreich die Avantgarde in einer zeitgenössischen Form wieder aufleben ließ.

Leader of the Pack war der Schriftsteller und spätere Kritiker der künstlichen Intelligenz Oswald Wiener, der bald darauf wegen einer provokativen Performance an der Wiener Universität, der Boulevard schrieb „Uni-Ferkelei“, aus Wien fliehen musste. „Mir kam das so vor, als wär ich in eine seltsame Bande aufgenommen. Ich hatte auf einmal, was auch köstlich ist, Feinde. Das heißt, sie hatten Feinde, die das jugendliche Bandenmitglied erbte.“

In jeder Beziehung aufbaufähig

Michel Würthle zog es nach Rom, wegen des Dolce Vita, dann nach Paris, wegen der Kunst. Aber Ende der Sechzigerjahre hatte er das Gefühl, zu spät nach Paris gekommen zu sein. Also weiter, nach New York! Vorher wollte er für ein paar Tage noch seine Freunde in Westberlin besuchen. Am 3. Mai 1970 landete Würthle in Tempelhof. „Mir hat Berlin schon so gut g’foin vom Flugzeug aus. Das steigerte sich von Tag zu Tag: Da bleim ma jetzt a bisserl.“

Erschien dem jungen Würthle Berlin als utopischer Ort? „Ja, genau das. Ein Wüsteneldorado. Was macht man aus einer Wüste? Man muss sie a bisserl bewässern. Es war in jeder Beziehung aufbaufähig.“

Bei den Türken gab’s mediterranen Geschmack

Würthle liebte die Großzügigkeit der Stadt, das Gefühl, sie liege am Meer. Die großen, schäbigen Wohnungen, der Berliner Dialekt. Berlin erzeugte Glücksgefühle, gab Luft zum Atmen, sagt er. „Nach den rigiden Gesellschaftsordnungen in Rom, in Mailand, in Paris – besonders verstopft, selbstverständlich auch in Wien, hab ich mich hier gefühlt wie ein Fisch im Wasser.“

Bald stellte er fest, dass etwas fehlte in Westberlin. „Für unsere Mäulchen, für unsere hungrigen Mägen war nichts zu essen da, wenn da nicht gewesen wären, zufällig, die Türken. Bei den Türken gab’s einen mediterranen Geschmack.“ Mit Ingrid und Oswald Wiener eröffnete Würthle am Paul-Lincke-Ufer, dieser „Anblicksidylle“, 1972 das Restaurant Exil. Es wurde schnell zum Anlaufpunkt für Künstler und Intellektuelle, die dank des DAAD damals die Welt ins enge Westberlin brachten.

Ein seltsames Gut

Am Paul-Lincke-Ufer wohnt Würthle immer noch. Als unser Gespräch irgendwann zur Scham führt, haut er wieder einen seiner präzisen Sätze raus: „Dieter Roth war ein größer Schämer. Der konnte in seinen größten Niedergeschlagenheiten sehr erheitern. Das konnte der Martin Kippenberger auch. Das ist ein sehr seltsames Gut.“

Seine eigenen Niedergeschlagenheiten hätten sich in Grenzen gehalten, ergänzt er, er sei dem Leben dankbar. Aber gerade fühle er sich wie der überforderte weiße Mann. Warum? „Frag ich mich auch. Wahrscheinlich hat es zu tun mit dieser Ausstellung, mit diesem und jenem. Ich habe wieder einen Sommer versäumt. Er war da, aber ich war nicht an den Orten, die ich damit verbinde, das ist jugendlich in Reingefühl. Plötzlich überkam einen die Kürze der Zeit, die bleibt.“

Die Toten geben Nahrung

Wenn einmal die letzten der Freunde gestorben sind, sei er allein übrig, aber: „Es lebt sich wahnsinnig angenehm mit den Toten. Man macht sich keine Sorgen um sie. Und wenn sie gut sind, geben sie dir Nahrung.“

Die Ausstellung

Michel Würthle: „Le cinéma de la vie“. Contemporary Fine Arts, Berlin Charlottenburg. Bis 22. September

Er erzählt, was ihm in Sri Lanka widerfuhr, als er einen Yogi traf: „Es kommt a zacher, kleiner, 80 Jahre alter Mann. Er schaut mich an, ernsthaft, und sagt: ‚And you, Sir, are you prepared for the winter of your life?‘ Diese Frage war ziemlich ironisch, hab ich gefunden. Ich war selbstverständlich nicht schlagfertig, schlagfertig bin ich, wie viele, Minuten oder Jahre später.“ Das muss man nicht bedauern. Die Begegnung hat Würthle zu zwei ebenso ironischen Zeichnungen inspiriert.

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