: Der Vorreiter hat sich „verhoben“
BILANZ Jetzt ist Halbzeit: Verglichen mit anderen steht Bremen bei der Inklusion immer noch gut da – doch es fehlt an Geld und Personal. Jetzt will Bürgermeister Carsten Sieling „gezielt bremsen“
Im überregionalen Vergleich steht Bremen bei der Inklusion an den Schulen noch immer sehr gut da. Da ist das Bundesland Spitzenreiter: 88,9 Prozent aller SchülerInnen mit Förderbedarf besuchten im Schuljahr 2015/2016 eine Regelschule.
Das geht aus einem Ländervergleich hervor, den die Rheinische Post soeben ausgewertet hat. Im Schnitt lag die Inklusionsquote bei 41,1 Prozent, 3,4 Prozentpunkte höher als im Vorjahr. Das Schlusslicht des Rankings bildet mit 26,8 Prozent Hessen, Berlin kommt auf 74,4, Hamburg auf 64,2 Prozent.
Bremen hat das Ziel der Inklusion 2009 im Schulgesetz verankert. Damals war die rot-grüne Regierung bundesweit Vorreiter. Heute ist der Senat mit dieser Rolle nicht mehr glücklich: „Wir haben uns da verhoben“, sagte Bürgermeister Carsten Sieling (SPD) kürzlich. Er will die Inklusion nun „gezielt, sorgsam und an geeigneter Stelle“ abbremsen. Es gebe „eine Reihe von Schwierigkeiten in unseren Schulen“, sagte Sieling im taz-Interview. „Die können wir nicht einfach ignorieren.“ Es fehle nicht nur am Geld, sondern auch am Personal und qualifizierten LehrerInnen. Doch den Studiengang für Behindertenpädagogik an der Uni Bremen wickelte der Senat parallel zur Einführung der Inklusion ab.
Eltern, LehrerInnen, Schulen und Verbände weisen seit Langem auf die Probleme hin. 2016 haben sich elf SchuldirektorInnen aus dem Bremer Westen zusammengetan, um den Stand der Inklusion zu bilanzieren. Das Ergebnis war in einem Brandbrief an die Bildungssenatorin Claudia Bogedan (SPD) nachzulesen: Zuerst gab es erwartbare „Anfangs- und Anlaufschwierigkeiten“, heißt es da – und im Laufe der Zeit kam es zu einer „Verschlechterung der Situation“. Die Folgen beschrieben die SchulleiterInnen so: Kinder könnten ihr Lernpotenzial nicht ausschöpfen, Auffälligkeiten entwickelten sich zu Störungsbildern und LehrerInnen erkrankten aufgrund struktureller Überforderung.
Die Inklusionsreferentin der Bildungsbehörde sagte damals schlicht: „Ich kann dem nicht widersprechen.“
Aus Sicht der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kommt der Senat schon seit 2009 seinen Verpflichtungen nicht nach. Inklusion bedeute eine Umgestaltung jeder Schule, um dort allen Kindern die Teilhabe zu ermöglichen. „Das hätte eine ausreichende Finanzierung zwingend nach sich ziehen müssen“, so die GEW. Im Haushalt 2018/19 soll der Schuletat um jährlich neun Millionen Euro erhöht werden. Der Zentralelternbeirat nahm das „mit Entsetzen“ zur Kenntnis.
Derweil kündigte die SPD an, dass die in der Koalition vereinbarte Abschaffung der Fritz-Gansberg-Schule 2018 nicht zu realisieren sei. Das Förderzentrum sollte im Zuge der Inklusion geschlossen werden. Nun wird die Schule vermutlich sogar saniert. Das löse „nicht die zentralen Probleme“, sagt die GEW. Die Schule helfe derzeit nur 50 von zigtausend SchülerInnen. Allein zwischen 2012 und 2015 stieg die Anzahl von SchülerInnen mit Förderbedarf von 3.046 auf rund 5.000 an. JAN ZIER
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