Der Verfall der Literatur: Die Boten des Neuen
Mangelt es der Literatur derzeit an Maßstäben, ist Formlosigkeit ihr Problem? Eine Debatte, der sich die Zeitschrift „Merkur“ widmet.
„Fangen wir irgendwo an.“ Mit diesem unscheinbaren Satz begann der Essayist Michael Rutschky 1980 seine Untersuchung „Erfahrungshunger“. Auf den zweiten Blick schwingt viel mit. Der Wille, sich von Diskursschranken nicht einschüchtern zu lassen, ist in dem Satz erkennbar. Und auch das Pathos eines „Close the gap“ lässt sich hineinlesen oder zumindest der Ansatz, die fein säuberliche Unterscheidung in höhere und niedere Kultur hinter sich zu lassen.
Womöglich war dieser Satz den Zeitläuften um gut drei Jahrzehnte voraus. Von Diskursschranken einschüchtern lassen sich derzeit jedenfalls nicht mehr so viele Autoren. Von literarischer Überproduktion ist die Rede. Oder in den Worten des Bielefelder Literaturwissenschaftlers Ingo Meyer: „Alle schreiben heute einen Roman.“ Die Frage dabei ist, ob damit nicht alle literarischen Maßstäbe auf den Hund zu kommen drohen.
In der aktuellen Novemberausgabe der intellektuellen Monatszeitschrift Merkur geht Ingo Meyer dieser Frage nach und räumt mit Verve gleich ein Dutzend bekannter Romanautoren ab. Es „lassen sich Verfallstendenzen innerhalb dieser Königsdisziplin der Epik kaum noch übersehen“, so Meyer. „Anleiten soll die Frage, ob sich ein Zusammenhang von inflationärer Produktion, schwindendem Gewicht der Artefakte und dem damit verbundenen Bewusstseinsschwund für die Anforderungen der Großgattung behaupten lässt.“ Das lässt sich behaupten, so seine Diagnose.
Ingo Meyers Überblickstext gewährt dem Leser die Freude, seine eigenen Vorurteile gegenüber der Gegenwartsliteratur intelligent gespiegelt zu sehen. Die Altvorderen wie Grass und Walser „erschlafft“? Check. Judith Hermann „schon erloschen“? Check. Uwe Tellkamps „Turm“ erfüllt von „rhetorischer Stickluft“? Check. Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ ein Ausdruck von „literarischem Analphabetentum“? Check.
Das bloß Gewollte und gut Gemeinte
Zu besonderer Form läuft Meyer bei Juli Zeh auf. Aus ihren Romanen arbeitet er mit Akribie das bloß Gewollte und gut Gemeinte heraus. Literatur wird, so Meyer, von Zeh nur als „Surrogat“ verabreicht, um Messages und die ganz großen Themen rüberzubringen: „die Willensfreiheit, die Gewalt, die Genderdebatte, der Datenschutz, die Menschenrechte, der Werteverfall. Hach ja“ (Meyer). Auf den Punkt, dass Literatur vielerorts auf ein Droppen debattenfähiger Themen reduziert wird, läuft der Aufsatz insgesamt heraus.
Darin möchte man ihm auch zustimmen. Und immerhin behauptet Meyer auch nicht, wie sonst bei sogenannten literarischen Grundsatzdebatten üblich, dass die Literatur durch den Betrieb korrumpiert werde und Rettung nur durch ein angeblich authentisches Außen kommen könne.
Hilfe könnte für ihn dagegen offenbar nur dadurch kommen, dass der Betrieb die Maßstäbe wieder anzieht und, direkt gesagt, sehr viel weniger Romane durchlässt als derzeit. Das aber ist nicht nur eine naive Idee, sie ist auch sentimental. Sehnsucht nach einer mit Autorität ausgestatteten Instanz, die objektiv gute von schlechten Romanen zu scheiden versteht, schimmert hindurch.
So eine Instanz aber kann es nicht nur nicht geben, sie ist immer nur eine Fantasie gewesen, auch zu den Zeiten literarischer Großkritiker, und es ist auch besser, sie nicht haben zu wollen. Es ist doch viel interessanter und auch unterhaltsamer, über seine Maßstäbe immer wieder neu zu reden. Wer sich am Rande der Schreibschulen von Leipzig und Hildesheim oder auch beim Open Mike umhört, kann denn auch mitkriegen, dass die Entwicklung derzeit in Richtung eines Redens über gelingendes Handwerk beim Texteschreiben läuft.
Erzählerstimmen mit feinem Gespür
Wer so fragt wie Ingo Meyer, hat vielleicht sowieso bloß vorschnell recht. Beispiele, um die These vom Verfall der Romankunst zu stützen, sind selbstverständlich immer zur Hand. Aber was produktiv an der neuen Situation ist, bekommt man damit keineswegs in den Blick.
Die Autorennamen, die Meyer weglässt, sind in diesem Zusammenhang bezeichnend. Weder kommt bei ihm Wolfgang Herrndorf vor noch Michael Kleeberg. Das aber sind Autoren, die – Herrndorf hinter seinen ironisch-rotzigen Bemerkungen, Kleeberg inmitten seiner akribischen Alltagsbeobachtungen – sehr wohl ein hohes Form- und literarisches Traditionsbewusstsein umsetzen.
Kein Überblick kann vollständig sein, aber gerade diese Autoren wegzulassen ist schwierig. Sie wissen bei jeder Szene, was sie literarisch tun, und sie haben sehr wohl ein feines Gehör für eine in sich stimmige Erzählerstimme entwickelt. Sie stehen also dafür, dass auch eine entgrenzte Literaturszene keineswegs nur Beliebigkeit hervorbringt. Und es gibt noch viel mehr Autorennamen, mit denen man sich die aktuelle Situation interessant machen kann.
Noch bezeichnender ist, dass Sibylle Lewitscharoff nicht bei Meyer vorkommt. Dieses Manko trifft seinen Essay im Kern, denn mit dieser Autorin hätte er seine Grundthese, dass das schwindende Gewicht der Romane an dem Schwund des Bewusstseins für literarische Form liegt, nie und nimmer durchziehen können. Das Problem an den Romanen dieser Autorin ist ja gerade, dass hier die Behauptung literarischer Formen hohl wird und leer läuft. Sie bestehen aus kaum mehr als aus dieser Behauptung.
Nicht Formlosigkeit ist das Problem
Es gibt (und vielleicht sollte sich die Literaturkritik darüber wirklich einmal verständigen) ein literarisches Formengedächtnis, das man manchmal als Autor nur mit verkünstelten Sätzen und einem dunkel raunenden Ton anstoßen muss, um sofort einschlägige Literaturpreisbegründungsformeln wachzurufen: Sprachkunstwerk, Transzendierung der Gegenwart etc. Nicht Formlosigkeit ist dann das Problem, sondern die Bereitschaft, sich mit etwas zufriedenzugeben, was bloß von der Form her nach Literatur aussieht.
Von hier aus lohnt es sich, weiter in diesem Novemberheft des Merkur zu lesen. In der zweiten Hälfte der Ausgabe werden nämlich gleich eine ganze Reihe von Schreibansätzen vorgestellt, die quer zur Verfallsthese stehen. Das sind die Ich-Romane von Karl Ove Knausgard und Emmanuel Carrère sowie die Bücher von Katja Petrowskaja und Per Leo, die weder auf den Begriff eines Romans noch auf den eines reinen Sachbuchs zu bringen sind. Die Autorin Kathrin Passig hat für solche Bücher einmal die Bezeichnung creative non-fiction vorgeschlagen.
So unterschiedlich diese Ansätze sind, sie verbindet das Moment, dass sie den Verlust von Diskursschranken als neue Freiheit interpretieren. Petrowskaja und Leo fangen einfach bei ihren Familiengeschichten an und kommen zu skrupulösen Einsichten in der Sphäre, in denen die Ideologien und die Sprechakte des katastrophalen 20. Jahrhunderts von realen Menschen verkörpert wurden. Und Karl Ove Knausgård und Emmanuel Carrère entwickeln sehr unterschiedliche Arten, literarisch ich zu sagen und den aktuellen Lebenserfahrungen auf die Spur zu kommen.
Raum ohne Schranken
Es sind vielleicht solche mit den Erfordernissen der literarischen Großgattung eher pragmatisch umgehende Bücher, in denen man derzeit das Gewicht der Artefakte suchen sollte. Wenn das stimmt, dann ist ein Verblassen der Diskursschranken gerade eine Voraussetzung dafür, dass sie gelingen können. Was bedeutet, dass Ingo Meyer nicht nur interessante Namen weglässt, sondern die ganze Situation ungünstig beschreibt.
Der Roman als Entfaltung von „Totalität“, im Grunde ist das doch nur ein Spruch. Um innerhalb der neuen Ansätze zwischen guten und nicht so guten Büchern unterscheiden zu können, muss man dann neue Maßstäbe entwickeln. Fangen wir, anstatt angeblich seligen Romankunstzeiten hinterherzutrauern, doch einfach mal damit an.
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