: Der Seelenheiler
Auf seiner Flucht aus Syrien hat Muhannad Taha Schreckliches erlebt. Heute hilft er als Psychologe anderen Geflüchteten bei der Traumabewältigung. Denn der deutsche Staat zieht sich immer mehr zurück
Von Luisa Faust (Text) und Christian Jungeblodt (Fotos)
Manchmal fühlt Muhannad Taha sich schuldig. Besonders dann, wenn der Mensch, der seine Hilfe sucht, aus seiner Heimatstadt Aleppo kommt. „Du bist wie ich“, denkt er dann. „Warum hatte ich so viel Glück? Wieso sitze ich hier und du da?“
Glück, damit meint Muhannad, dass er nach seiner Flucht aus Syrien im Frühsommer 2015 nur ein paar Wochen im Erstaufnahmelager in Eisenhüttenstadt bleiben musste. Dass er bald mit seiner Mutter in eine eigene Wohnung nach Neuruppin ziehen durfte. Dass sein Englisch gut war und er deshalb schnell arbeiten konnte. Dass seine ganze Familie heute in seiner Nähe wohnt. Dass auf seinen Berliner Balkon die Abendsonne scheint und er inzwischen einen deutschen Pass hat. Dass er Psychologie studieren konnte, so wie er wollte.
Muhannad, 34 Jahre alt, ist jemand, der überlegt, bevor er spricht, sich zu seinem Gegenüber beugt, wenn er zuhört. Jemand, der jeden Morgen nach dem Aufstehen eiskalt duscht. „Dann bist du für alles vorbereitet, der Tag kann dich nicht mehr schockieren“, sagt er. Neben seiner Ausbildung als psychologischer Psychotherapeut arbeitet er auch als Sprachmittler, begleitet seit 2016 Geflüchtete bei Arztbesuchen und Therapiesitzungen.
An einem Mittwochnachmittag baut Muhannad in einem kleinen Raum in einer Unterkunft für Asylbewerber*innen einen Stuhlkreis auf. Das Haus im Norden von Berlin hat sechs Stockwerke, ist grau verputzt, mit einem Treppenhaus aus Glasbausteinen. 258 Personen sind hier zur Zeit untergebracht, 82 von ihnen minderjährig. Die meisten kommen aus Afghanistan, der Türkei oder aus Syrien. Auf der anderen Straßenseite ist ein großer Spielplatz. Die Kinder, die hier spielen, verständigen sich mit einem Mix aus Deutsch, Vietnamesisch, Farsi und Arabisch. Drinnen hängen bunte Skulpturen aus Pappmaché von der Decke, an den Wänden Bilder von Biene Maja. Ein Puppenhaus und Playmobil stehen in der Ecke. Hier üben die geflüchteten Kinder sonst Deutsch und lernen schreiben und rechnen.
Das Klassenzimmer ist ein geschützter Raum – heute für geflüchtete Männer. In der Unterkunft leben 203 männliche Geflüchtete und 55 weibliche. Gleich findet eine Gesprächsrunde statt, mit psychologischer und ärztlicher Begleitung. Muhannad ist als Psychologe hier, und um bei medizinischen Fragen für seinen Kollegen, den Psychiater Sebastian, zu übersetzen. Während die beiden das Kabel für ihren Beamer suchen, füllt sich der Raum. Nach und nach kommen elf Männer in den Raum, murmeln ein leises „Hallo“ und setzen sich schweigend in den Stuhlkreis zwischen den bunten Kinderzeichnungen. Manche verschränken die Arme und blicken Sebastian und Muhannad erwartungsvoll an.
Die Männerrunde ist ein neues Projekt der Berliner Charité, ein ähnliches Angebot für geflüchtete Frauen gibt es schon länger. In den Gesprächsrunden geht es um Gefühle, über die Männer oder Frauen vielleicht verschieden sprechen wollen, um geschlechtsspezifische Gesundheitsthemen, um Sexualität. Die Frauen oder Männer sollen sich hier sicher fühlen, schwierige Themen anzusprechen, und Vertrauen zu den Behandelnden fassen können. Alle drei bis vier Monate besuchen Muhannad und seine Kolleg*innen unterschiedliche Berliner Geflüchtetenunterkünfte. Das soll eine große Versorgungslücke etwas kleiner machen. Denn in Deutschland haben Geflüchtete erst nach drei Jahren Zugang zum regulären Gesundheitssystem. Davor werden nur akute Krankheiten und Schmerzzustände behandelt, und psychische Krankheiten nur in den seltensten Fällen. Das heißt, auch Geflüchtete, die Folter und Gewalt erlebt haben, traumatische Fluchterfahrungen hinter sich haben, bekommen fast nie die Hilfe, die sie brauchen. Gerade einmal 3,3 Prozent von ihnen erhielten 2023 eine angemessene Therapie, wie ein Bericht der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer zeigt. Dabei hat etwa ein Drittel der Geflüchteten wegen Traumata psychische Probleme. Manche von ihnen entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung, also eine verzögerte psychische Reaktion auf ein oder mehrere extrem belastende Ereignisse, mit Flashbacks, Albträumen, Schlafstörungen und quälenden Erinnerungen.
Im Klassenzimmer erklären Sebastian und Muhannad den Männern zuerst das deutsche Gesundheitssystem: Wo bekommt man Hilfe? Wann geht man zum Hausarzt, wann ins Krankenhaus, was ist ein Notfall? Und was eine psychische Krankheit? Und sie hören zu. Die Männer können hier auch über Sexualität sprechen, manchmal geht es zum Beispiel um Erektionsprobleme, sagt Muhannad. Oder über ihre Gefühle, über Angst, Wut, Trauer, Perspektivlosigkeit und oder einfach Langeweile. Nach der Gruppensitzung bieten Muhannad und Sebastian Einzeltermine an, wenn die Männer Anliegen haben, die sie nicht vor den anderen besprechen wollen. Oder sie vermitteln weiter, an Sozialarbeiter*innen oder im Notfall auch an Spezialist*innen.
Zur Gesprächsrunde ist auch Uthman al-Hassan, 48, gekommen. Er trägt Sportschuhe und Trainingsjacke, ist akkurat frisiert und rasiert. In seiner Heimatstadt Raqqah im Norden von Syrien hat er in einer Molkerei Käse gemacht. Auch jetzt würde er gerne arbeiten, vielleicht als Altenpfleger, erzählt er. Aber sein Leben ist im Stillstand, seit er vor eineinhalb Jahren in Berlin angekommen ist, zu seinem Sohn, der schon vorher geflohen war. Sie können nicht zurück, Syrien ist noch immer unsicher. Aber sie können auch nicht ankommen: Uthmans Gedanken kreisen ständig um seine Tochter, seinen anderen Sohn, seine Frau, die er zurücklassen musste.
Nach der Gesprächsrunde bittet Uthman um einen Einzeltermin. In der Mitte des leeren Klassenzimmers stellen Sebastian und Muhannad drei Stühle zusammen und setzen sich Uthman gegenüber. Er beginnt zu sprechen, auf Arabisch. Muhannad blickt ihm aufmerksam ins Gesicht, stellt ein paar Nachfragen, einzelne Wörter notiert er auf ein Blatt Papier. Dann dreht er sich zu Sebastian und übersetzt, fließend, schnell und so genau wie möglich. Beim Sprechen übernimmt er Uthmans Position: „Ich habe ein Problem“, fängt er an und legt wie Uthman kurz zuvor die Hand an seinen Hals und auf seine Brust: „Da ist etwas mit meinem Herzen.“
Als eine Enge, einen Schmerz, die ihm Angst machen, beschreibt Muhannad das Gefühl für Uthman. Er habe das schon mal gespürt, als seine Eltern gestorben sind, bei einem Erdbeben in Syrien. Vor ein paar Tagen aber, da kam das Gefühl einfach so, es war eigentlich eine Kleinigkeit: Ein Junge aus der Unterkunft habe ihn beleidigt. Da war es wieder: der Druck im Brustkorb, die Luftnot, die sich anfühlt, als müsse man sterben. Dabei war das eine Banalität, sagt Muhannad für Uthman, der mit den Achseln zuckt, und inzwischen habe er sich mit dem Jungen vertragen.
„Uthman, was du erlebt hast, ist keine Banalität“, antwortet Sebastian und zählt auf: „Du hast beide Eltern verloren, du hast die Flucht hinter dir, lebst in einem fremden Land, hast Sorgen um deine Familie.“ Das sei alles großer Stress. Muhannad übersetzt, Uthman nickt. Manchmal drücke der Körper aus, dass etwas zu viel ist, erklärt Sebastian, bevor der Geist das kann. Mit Atemnot, Druckgefühlen und Schwitzen spricht der Körper dann. Uthman nickt wieder, das plötzliche Schwitzen kennt er auch. „Aber ich mache mir Sorgen, dass der Druck einmal zu viel wird und mein Herz aufhört zu schlagen.“
Muhannad Taha über seine Flucht 2015
Wie ein Fass, das schon sehr voll ist, beschreibt es Sebastian für Uthman: Die Unsicherheit, die Sorge um die Familie, die Fluchterfahrungen. Zum Überlaufen könne alles führen, eine vermeintliche Kleinigkeit, ein dummer Spruch. Muhannad übersetzt, formt mit seinen Händen für Uthman das Fass, zeigt, wie es mit einem Schwung überläuft.
Auf Uthmans Gesicht breitet sich langsam ein Lächeln aus. Er ist erleichtert, dass die Enge in seiner Brust nicht so gefährlich ist, wie sie sich anfühlt. Uthman brauche einen Ausgleich, meint Sebastian, empfiehlt ihm Sport und zur Sicherheit noch ein EKG, um körperliche Probleme ganz auszuschließen – aber viel mehr können Muhannad und Sebastian erst mal nicht machen. Uthman wird weiter warten, die Sorgen und Unsicherheit werden bleiben.
Wenn Geflüchtete langfristig psychologische Hilfe brauchen, dann springen oft die psychosozialen Zentren ein. In Berlin ist es in vielen Fällen das Zentrum Überleben. Der Bedarf sei allerdings größer als die Zahl der Plätze, sagt Katrin Boztepe. Sie arbeitet hier als psychologische Psychotherapeutin. Immer wieder muss das Zentrum um Geld kämpfen, Spenden sammeln, Projektanträge stellen. Die Bundesregierung hat beschlossen, im neuen Haushalt die ohnehin schon knappen Mittel erneut zu kürzen. 2023 hatte der Bund noch 17 Millionen Euro für alle Zentren bereitgestellt, jetzt sollen es nur noch rund 11 Millionen Euro sein. Die Menschen, die im Zentrum Überleben behandelt werden, brauchen in der Regel Sprachmittlung. Die ist aber nicht gesetzlich verankert und muss immer zusätzlich finanziert werden.
„Unsere Patient*innen haben oft mehrere traumatische Erfahrungen gemacht“, sagt Boztepe. Sie seien Überlebende von Gewalt und Folter, von Krieg, Verfolgung und Haft. Sie hätten immer wieder Menschenrechtsverletzungen erlebt, im Herkunftsland, auf der Flucht, an Grenzübergängen, von staatlichen und parastaatlichen Kräften. „Und wenn sie in Deutschland ankommen, ist lange nicht alles gut“, sagt Boztepe. Oft müssen Geflüchtete monate- oder jahrelang in Unterkünften bleiben. Dann sei da der Stress, die Unsicherheit, das Warten, die Perspektivlosigkeit, viele erleben Rassismus. Viele haben außerdem kaum Geld, weil sie auf staatliche Leistungen angewiesen sind, solange sie keine Arbeitserlaubnis haben.
„Das alles steht auch der Heilung im Weg“, sagt Boztepe. Denn um eine posttraumatische Belastungsstörung zu behandeln, braucht es Sicherheit, Stabilität und die Möglichkeit, Selbstfürsorge zu betreiben. Der bewährte Weg, Traumata zu therapieren, sei, sie zu konfrontieren. „Aber kann ich das guten Gewissens machen, wenn ich die Patient*innen danach zurück in die Unterkunft schicke, wo sie keinen privaten Rückzugsraum haben, um Besprochenes zu reflektieren und wirken zu lassen?“, fragt sich Boztepe regelmäßig.
Für Muhannad war manches anders, daher kommt das Schuldgefühl, das ihm regelmäßig begegnet. Das Gefühl kann aber auch ein Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung sein. In der Psychologie heißt es „Survivor’s Guilt“, die Schuld der Überlebenden. Denn auch Muhannad hat auf der Flucht Traumatisches erlebt.
Es ist 2015. Muhannad, damals 23 Jahre alt, lebt in Aleppo ein ziemlich normales Leben. Er ist gerne mit Freunden unterwegs, macht ein bisschen Sport, will vielleicht Maschinenbau studieren. Er kommt aus einem Akademikerhaushalt, seine Eltern arbeiten an der Universität. Aber während er erwachsen wird, verändert sich die Stadt um ihn herum. Es liegt etwas in der Luft, das merkt man überall. Schüler werden festgenommen, weil sie an Häuserwände Sprüche gegen das Regime gekritzelt haben, es heißt, dass sie gefoltert werden.
Muhannads Großvater ruft ein Familientreffen ein. „Hier können wir nicht bleiben, was machen wir jetzt?“, fragt er. Die Familie entscheidet, dass Muhannad sich mit seiner Mutter auf den Weg machen soll. Sie wollen nach Deutschland, denn dort leben schon zwei Geschwister. Ein Bruder studiert in Berlin. Aber der Weg von Muhannad und seiner Mutter ist schwieriger als die Reise seiner Geschwister mit einem Studentenvisum. Um sie herum beginnt gerade der syrische Bürgerkrieg und Regeln zerfallen in Willkür und Gewalt.
Die Flucht dauert etwa 3 Wochen. Muhannad und seine Mutter fahren erst Bus, dann Zug. Türkische Schlepper schicken sie mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer. Sie finden Mitfahrgelegenheiten, laufen zu Fuß, mitten in der Nacht durch den serbischen Wald. Immer wieder fühlen sie sich auf der Flucht ausgeliefert. Es gibt Sekunden, die sich wie Stunden anfühlen, in denen alles schiefgehen könnte. Aber vorerst haben sie Glück: Die Grenzbeamten lassen sie aus Syrien ausreisen. Das überfüllte Schlauchboot sinkt nicht. Sie schaffen es durch den Wald.
Muhannad Taha über den Sturz von Assad
Doch kurz vor dem Ziel passiert etwas, das sie unbedingt vermeiden wollten: Muhannad und seine Mutter werden in Ungarn von Grenzbeamten gefasst. Ihre Fingerabdrücke werden genommen, jetzt sind ihre Daten im System. Wegen der europäischen Dublin-Regeln dürfen sie nun nur noch in Ungarn Asyl beantragen. Hier sind die Bedingungen für Geflüchtete extrem schlecht. Menschenrechtsverletzungen sind Alltag, das wissen auch Muhannad und seine Mutter.
Nachdem sie ihre Daten aufgenommen haben, lassen die Grenzbeamten die beiden weiterreisen. Über die Grenze von Ungarn nach Österreich nehmen sie ein Taxi, weil die selten angehalten werden. Denn sie wissen, dass sie sofort wieder nach Ungarn geschickt würden, wenn man sie beim Überqueren der Grenze entdecken würde. Während der gesamten Fahrt durch die Nacht weint Muhannad vorne neben dem Fahrer: „Ich habe gedacht, mein Leben ist vorbei. Wir werden wieder abgeschoben. Alles, was wir schon geschafft haben, war umsonst.“ Trotzdem fahren sie weiter mit dem Zug nach München. Dort holt der Bruder sie ab, zu dritt geht es jetzt weiter nach Berlin. Eine Nacht verbringen sie als Familie in seiner Wohnung. Am nächsten Tag melden sich Muhannad und seine Mutter beim Sozialamt.
Die Monate danach sind als „Flüchtlingssommer“ in die Geschichte eingegangen. Innerhalb weniger Monate kommen mehr als eine Million Geflüchtete nach Europa, vor allem aus Syrien, Afghanistan und Irak. An einem einzigen Tag im August werden mehr als 4.000 Schiffbrüchige im Mittelmeer lebend geborgen. Angela Merkel sagt „Wir schaffen das“ und die Regierung entscheidet, Abschiebungen in andere EU-Staaten vorerst auszusetzen. Auch Muhannad darf bleiben.
Dass er einige Monate früher gekommen ist, habe einen großen Unterschied gemacht, glaubt Muhannad. Das System, auf das sie treffen, ist noch nicht so überlastet, wie später. Im Brandenburgischen Neuruppin, wo sie eine Wohnung bekommen, kümmern sich Sozialarbeiter*innen um die beiden. Muhannad findet Freund*innen, die mit ihm Englisch sprechen und ihm helfen, sich im deutschen System zurechtzufinden. Er fängt an zu arbeiten, plant seine Zukunft. Zurück denkt er erst mal nicht. Mit seinem Leben in Deutschland ist er ausreichend beschäftigt.
Ungefähr eineinhalb Jahre dauert es, bis die Albträume kommen. In seinen Nächten wird Muhannad jetzt gejagt, manchmal festgenommen. Wenn er aufwacht, rast sein Herz. Einmal hört seine Mutter ihn im Schlaf schreien. Ein Freund, der Psychotherapeut ist, sagt ihm: „Das ist ein Trauma, du musst dich darum kümmern, das geht nicht von alleine weg.“ Muhannad glaubt ihm erst nicht, versucht sich mit Filmen und Fernsehen abzulenken. Aber auf Dauer klappt das nicht. Muhannad macht nun doch einige Termine aus: Er findet eine Gruppentherapie und eine Therapeutin, die mit ihm seine Traumata konfrontieren und das Sprechen über Gefühle üben. Mehrere Jahre ist er in Behandlung.
Das alles hilft, nach und nach geht es Muhannad besser. Für ihn war es leichter, die notwendige Behandlung zu bekommen, als für viele andere: Muhannad durfte arbeiten und hatte deshalb auch eine reguläre Krankenversicherung. Bis 2023 mussten Geflüchtete außerdem nur 18 Monate warten, bis sie Anspruch auf reguläre Behandlungen erhielten – heute sind es 3 Jahre.
Muhannad beschäftigt seine Flucht jetzt nur noch selten. Und er ist selbst Psychologe geworden. Den Beruf hat er sich auch wegen seiner Erfahrungen als Sprachmittler ausgesucht. Bei therapeutischen Sitzungen merkt er nämlich manchmal, dass die deutschen Therapeut*innen auf eine Art fragen, die er nicht ganz passend findet. „So würde man es bei uns nicht formulieren, so fragt man das nicht“, denkt er. Psychotherapie ist etwas Kulturelles, stellt er fest, und entschließt sich, selbst diesen Beruf zu ergreifen.
Vieles ist jetzt wie früher, als Muhannad in Aleppo lebte: Nach der Arbeit trifft er seine Freunde, geht zum Sport oder kocht syrisches Essen. Inzwischen aber vegetarisch, so gut das eben geht. Als am 8. Dezember 2024 in Syrien das Assad-Regime fällt, ist das für Muhannad überwältigend. Zehn Jahre lang konnte er nicht mehr in sein Heimatland. „Es ist, als wärst du jahrelang in einem verschlossenen Raum gewesen. Und jetzt ist nicht einfach eine Tür aufgegangen, es sind alle Wände weg“, beschreibt er das. Mit einigen syrisch-deutschen Psycholog*innen und Ärzt*innen sucht er jetzt eine Möglichkeit, Syrer*innen auszubilden – erst mal aus der Ferne, übers Internet. Denn klinische Psycholog*innen gibt es in Syrien bislang kaum. Obwohl der Bedarf nach Jahren des Kriegs und Assads Folterregime riesengroß sein muss, glauben Muhannad und seine Mitstreiter.
Für Uthman ist es anders. Obwohl auch er sich freut, dass Assad jetzt weg ist, schließen sich für ihn die Türen, auf die er so sehr gehofft hatte. Deutschland entscheidet wenige Tage nach Assads Sturz, den Familiennachzug aus Syrien zu stoppen. Und im Juni 2025 beschließt die Bundesregierung, den Familiennachzug für Menschen unter subsidiärem Schutz in Deutschland für zwei Jahre auszusetzen. Das betrifft Uthman – und viele Syrer*innen, die in Deutschland leben. Seine Frau, seine Tochter und sein Sohn dürfen erst mal nicht zu ihm kommen. Uthman geht mit anderen Syrer*innen zu einer Demonstration vor dem Reichstagsgebäude, vor der Brust trägt er ein Schild. „Meine Kinder weinen“ steht darauf.
Trotzdem hofft und wartet er weiter – auf eine Arbeitserlaubnis, darauf, dass er aus der Unterkunft ausziehen darf. Er belegt Sprachkurse, lernt lesen und schreiben, macht ein bisschen Ehrenamt: Müll sammeln, Ausflüge organisieren, solche Sachen. Manchmal schreibt er Gedichte, die er mit seiner Deutschlehrerin übersetzt. Und er spielt Schach und Tischtennis mit den anderen Männern aus der Unterkunft. Nur Fußball traut er sich nicht mehr zu. Das, glaubt er, macht sein Herz nicht mehr mit.
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