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Der Schutzschild aus der Babyzeit

Jugendhilfe, die gleich nach der Geburt ansetzt: Im Programm „STEEP“ können Eltern lernen, eine Beziehung zum Kind aufzubauen – und so spätere Probleme verhindern  ■ Von Kaija Kutter

Im Klinikum Nord war vergangene Woche hoher Besuch. Die Ärztin Martha Farrell Erickson von der University of Minnesota schulte rund 30 Ärzte und Psychologen in einer Methode, die in den USA große Erfolge feiert. „STEEP“, (Steps Towards Effective and Enjoyable Parenting) heißt das Programm, das Erickson 1985 entwi-ckelt hat und das seit zwei Jahren auch beim bezirklichen „Projekt Frühintervention“ in Langenhorn rund 60 Familien zugute kommt.

Die Grundidee: „Wir müssen Eltern darin unterstützen, möglichst gut zu ihren Kindern zu sein“, sagt Erickson. Grundlage der Konzeptentwicklung waren Beobachtungen, dass sich bestimmte Kinder trotz hoher Risikofaktoren wie Armut, Gewalterfahrung oder Drogenkonsum der Eltern „ganz normal“ entwickeln. In Langzeitstudien fanden Forscher den Grund: Alle diese Kinder hatten als Baby eine gute Beziehung zu ihren Eltern. Erickson: „Die Abwesenheit von Wärme und Einfühlungsvermögen ist das größte Risiko.“ Dabei komme es vor allem auf die allerersten Wochen und Monate eines Babies an.

„Wir können unseren Kindern keine Kindheit ohne Risiken bieten“, ergänzt Gerhard Süß, Psychologe im Projekt Frühintervention, „aber wir können dazu beitragen, dass Kinder optimal gestärkt werden.“ In der Bevölkerung weit verbreitet sei beispielsweise immer noch die „Verwöhntheorie“. In der Annahmne, sie täten das Beste, um nicht einen späteren Tyrannen he-ranzuziehen, lassen Eltern Säuglinge einfach schreien, statt auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Doch diese Schlüsselerfahrung hat laut Erickson große Wirkung: Das Kind erlebt die Eltern als emotional nicht erreichbar, macht in der Folge „dicht“ und wird aggressiv, entwickelt kein Einfühlungsvermögen. Erickson: „Im Kindergarten treten diese Kinder andere, die am Boden liegen.“ Deshalb sei es so wichtig, dass das Baby entdeckt, „dass seine Signale wirken“.

Statt Mütter und Väter als „schlechte Eltern“ zu diskreditieren, will STEEP sie stärken und qualifizieren. Mit aufwändiger Betreuung werden sie dazu befähigt, möglichst gut zu ihren Kindern zu sein und „durch die Augen des Kindes zu sehen“, wie Erickson es beschreibt. Stimme und Mimik eines Erwachsenen beispielsweise geben dem Säugling Halt. Sprachlosigkeit und ausdrucksloses Gesicht erschrecken ihn.

Im Langenhorner Projekt, das vom Jugendamt und der Edmund-Siemers-Stiftung finanziert wird, arbeiten ein Psychologe und eine Sozialpädagogin. In den USA übernehmen die Betreuung auch erfahrene Mütter. Zum Konzept gehört, dass die Helfer eine Beziehung zu den Eltern aufbauen, häufig Hausbesuche machen und die Eltern auch in Gruppen zusammenbringen. Sind Mutter und Vater überfordert, gilt es Entlastung zu schafffen.

Sehr effektiv ist auch der Einsatz von Videotechnik. Nach dem Prinzip „See and believe“ werden Alltagssituationen wie Füttern oder Pflege gefilmt und anschließend mit den Eltern besprochen. Erickson: „Wenn Eltern etwas falsch machen, sagen wir es ihnen nicht. Sondern fragen sie selbst: –Was will ihnen ihr Baby da sagen?“ Einer Mutter, die ihr Kind nur als Tyrannen erlebte, wurde dabei deutlich, „wie viel Rücksicht das Kind eigentlich nimmt“, berichtet Süß. Das 18 Monate alte Kind sei eine extreme Frühgeburt gewesen und zählt damit zu einer weiteren Risikogruppe. Süß: „Bei diesen Babies ist es schwerer zu lesen, was sie wollen. Und für Eltern schwer, das richtige Maß zu finden.“ So würden solche Kinder leicht überstimuliert. „Das heißt aber nicht, dass alle Eltern von Frühgeborenen zur Beratung müssen.“

Die Eltern, die Hilfe suchen, kommen überwiegend freiwillig, weil sie Fütter-, Schlaf- oder Beziehungsprobleme haben. Ein Teil wird auch von Kinderärtzen und Sozialen Diensten geschickt. Der Kontakt wird mindestens drei Jahre aufrechterhalten und in der so genannten ersten Trotzphase des Kindes zwischen dem 18. und dem 30. Lebensmonat intensiviert. Denn in dieser Zeit besteht die Gefahr, dass sich aggressives Verhalten verfes-tigt – selbst wenn die Beziehung vorher „in ruhigen Bahnen verlief“, so Süß. Das Kind lerne in den „von Trotz und Negativismus geprägten“ Auseinandersetzungen ein Beziehungsmodell, in dem das Aufdrücken des eigenen Willens und Durchsetzens, oft gepaart mit körperlicher Bestrafung, vorherrscht.

Sehr wichtig und von den Eltern auch als „Wertschätzung der eigenen Person“ wahrgenommen, sei deshalb auch die Aufarbeitung der eigenen Kindheit in anderthalbstündigen Interviews. Dazu Erickson: „Wie wir als Kind behandelt wurden, hat einen großen Einfluss. Deshalb ist es wichtig, dass wir es kritisch reflektieren.“ Eltern sollten bei sich selber gucken, was gut und was schmerzhaft war in ihrer Kindheit. „Die Tendenz, es zu leugen, fördert nur, dass man es in die nächste Generation weiterträgt.“

Viele Mütter, die Hilfe suchen, haben selbst eine schwierige Kindheit gehabt, lebten in Heimen oder auf der Straße. Mit guter Unterstützung, so Süß, können sie verhindern, dass es ihrem Kind genauso ergeht, können die „Teufelsspirale“ unterbrechen. Hilfe bräuchten aber auch Eltern aus gehobenen sozialen Schichten, beispielsweise eine Frau, die ihre Kindheit mit einer depressiven Mutter verbrachte und deshalb für ihr eigenes Kind nichts empfindet.

Damit Eltern begreifen, wie ihr Baby fühlt, schreiben STEEP-Betreuer auch schon mal einen „Brief“ vom Baby an die Eltern. Die Methode, die nach dem Multiplikatorenprinzip auch an Elternschulen, Kinderkrippen und Soziale Dienste weitervermittelt werden soll, ist personalintensiv und „nicht billig“, wie Erickson sagt. „Aber sie ist viel günstiger als die Kosten, die einer Gesellschaft entstehen, weil man es nicht tut“.

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