: Der Satz mit der Bombe
Das Ende der atomaren Erstschlagsdoktrin fordert der neue Koalitionsvertrag – im Gegensatz zu 1998 – nicht mehr. Ein allzu großzügiges Versöhnungsgeschenk an die USA
Wenn der deutsche Außenminister Joschka Fischer in dieser Woche nach Washington fliegt, um dort das angekratzte Verhältnis zur US-Regierung aufzubessern, kann er zumindest ein Versöhnungsgeschenk präsentieren: Diesmal fehlt im rot-grünen Koalitionsvertrag jede direkte oder indirekte Kritik an der Atomwaffenpolitik der USA. Eine zentrale Absichtserklärung zur Rüstungskontrollpolitik verschwand damit stillschweigend aus dem Kapitel zur Außenpolitik der neuen Bundesregierung.
Im Koalitionsvertrag von 1998 schrieben Sozialdemokraten und Grüne noch die wahrlich nicht revolutionäre Absicht fest, dass sich die Bundesregierung „für den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen“ einsetzen werde – eine uralte Forderung von Friedensbewegten und kritischen Rüstungsforschern. Zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation in Europa wurden sie von den Regierenden in der Nato-Hälfte des Kontinents stets mit dem Argument abgebügelt, dass die andere Seite bei nichtnuklearen, so genannten konventionellen Waffen dermaßen überlegen sei, dass gegen den massierten Panzeraufmarsch der sowjetischen Armee notfalls auch Atomwaffen eingesetzt werden müssten. Das Argument hat inzwischen auch den letzten Rest interner Logik verloren, denn nicht nur in Europa, auch weltweit gibt es keine militärische Macht, die auch nur annähernd die USA herausfordern kann.
Vor vier Jahren sah die Bundesregierung die Klausel nicht als fromme Erklärung zur Beruhigung des grünen Gewissens, sie schien sie durchaus ernst zu nehmen. Jedenfalls machte sich der Bundesaußenminister im November 1998 das Anliegen zu Eigen und trug es in hoher Nato-Runde vor. Damit provozierte er die vielleicht einzige gravierende außenpolitische Verstimmung innerhalb der Koalition. Denn sein Kabinettskollege, der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping, eilte sogleich nach Washington, um die aufgeregten Gemüter der Herren im Pentagon zu beruhigen. Seitdem herrscht Ruhe. Eine Demütigung in Sachen atomarer Ersteinsatz wollte Joschka Fischer wohl ungern noch einmal erleben. Das Thema schien abgehakt.
Die zweite rot-grüne Regierung will sich offenbar erst gar nicht mit dieser Frage belasten. Denn während für einige der Absichtserklärungen aus ihrer ersten Legislaturperiode durchaus gelten darf, dass sie sich erledigt haben, kann dies für die Forderung nach einer Änderung der ärgsten Auswüchse der Atomwaffenpolitik der USA und der Nato nicht gelten.
Im Gegenteil: Sowohl das 1999 verabschiedete „Strategische Konzept“ der Nato als auch die Ausführungsbestimmungen in dem geheimen Nato-Dokument MC 400/2 vom Mai 2000 bekräftigten die Erstschlagsdoktrin des Bündnisses. Und im März dieses Jahres weiteten die USA die Erstschlagsdoktrin für ihre Atomwaffen sogar noch aus. „Atomare Angriffsoptionen“, heißt es in der für die Einsatzplanung maßgeblichen „Nuclear Posture Review“, „werden die militärischen Fähigkeiten ergänzen.“ Die Bombe darf und soll jetzt auch gegen Staaten eingesetzt werden, die nach Auffassung der US-Regierung bemüht sind, sich chemische oder biologische Waffen zu beschaffen. Die Zielliste des Pentagons umfasst also auch Staaten, die selbst nicht über Atomwaffen verfügen. Eine so weit reichende Einsatzdoktrin, in die die Bundesrepublik über ihre Nato-Mitgliedschaft eingebunden ist, ist keine Privatangelegenheit der USA. Es ist nicht einsichtig, warum sie – ohne jeden Fortschritt in der Sache – von der Prioritätenliste außenpolitischer Ziele der Bundesregierung verschwinden soll.
In der aktuellen Auseinandersetzung um einen Krieg gegen den Irak wird die offensichtliche Aufgabe der bescheidenen Forderung nach Änderung der Einsatzrichtlinien für US-Atomwaffen gänzlich unverständlich. Denn schließlich führt die US-Regierung die unterstellte Absicht Bagdads, sich die Bombe zu beschaffen, als Legitimation für einen Präventivkrieg gegen Irak an. Dazu passt es dann kaum, wenn gleichzeitig dem Irak – im Einklang mit der Erstschlagsdoktrin der Nato – mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht wird, wie dies etwa der britische Verteidigungsminister Geoff Hoon im Frühjahr dieses Jahres ausdrücklich tat.
Bliebe die Bundesregierung bei ihrem Ziel und trüge sie dieses auch offensiv vor, würde ihr internationales Engagement gegen die Weiterverbreitung von Atomwaffen wesentlich glaubwürdiger werden. Und solch ein Engagement ist nötiger denn je. Am offensichtlichsten ist die Gefahr in Südasien, wo sich mit Pakistan und Indien zwei Staaten als neue Atomwaffenbesitzer fest etabliert haben. Pakistans Militärmachthaber Musharraf hat Indien schon offen mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Aber auch andernorts droht langfristig die Gefahr, dass Staaten dem schlechten Beispiel der USA und der Nato folgen und Atomwaffen wieder als einsatzfähige Waffen sehen, die zu besitzen sich lohnt. Auch die internationale Rüstungsdiplomatie, die zu stärken sich Rot-Grün ausdrücklich vorgenommen hat, wird durch die von der US-Regierung offensiv vertretene Erstschlagsdoktrin geschwächt. Eine deutliche Kritik würde den diplomatischen Handlungsspielraum der Bundesregierung vor allem bei der Stärkung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages deutlich erweiten.
Das Ziel, die Atomwaffendoktrin zumindest innerhalb der Nato zu ändern, ist deshalb heute kein bisschen weniger relevant als vor vier Jahren. Natürlich: Niemand im Pentagon, im Weißen Haus oder im State Department würde vor Angst erzittern, machte die rot-grüne Bundesregierung die Forderung nach Aufgabe der Erstschlagsdoktrin wieder zu ihrer erklärten Politik. Aber auch wenn die Chancen, die Forderung durchzusetzen, gering sein mögen – dies ist kein Grund, sie ganz zu streichen. Schließlich sind auch die löblichen Bekenntnisse im Koalitionsvertrag zur Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, zur Stärkung der Vereinten Nationen und zur konstruktiven Konfliktbearbeitung keine kurzfristig durchsetzbaren außenpolitischen Ziele. Schon gar nicht genießen sie die Unterstützung der Bush-Regierung. Gerade eine kritische Atomwaffenpolitik wäre für die Bundesregierung ein Feld, auf dem sie zumindest außerhalb der USA mit breiter internationaler Unterstützung rechnen könnte.
Sollten die rot-grünen Koalitionäre die wichtige Forderung aus dem Jahr 1998 aus vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem beleidigten Bündnispartner aus ihrem Programm gestrichen haben, wäre dies kein Zeichen für friedenspolitische Standfestigkeit, mit der SPD und Grüne im Wahlkampf warben. Für die Haltung in den anstehenden internationalen Konflikten der kommenden Monate ließe das Schlimmes befürchten. Sollte die Forderung nach einem Einsatz gegen die Erstschlagsdoktrin jedoch allein aus Nachlässigkeit im Koalitionsvertrag fehlen, dann wäre es an der Zeit, dass Abgeordnete aus den Regierungsparteien das Thema Atomwaffen wieder auf die Agenda setzen. ERIC CHAUVISTRÉ
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