piwik no script img

Der Reumütige

aus Hergenrath BERND MÜLLENDER

Wer zu Heinz Jussens Haus will, muss Augen und Ohren aufmachen und Geduld haben. An der Bahnschranke. Die öffnet sich nur, wenn man einen Knopf drückt. Nach einer Weile tönt eine Stimme aus der Gegensprechanlage: „Zugdurchfahrt aus Aachen. Bitte warten.“ Dann rauscht der „Thalys“ nach Paris durch. Dann wird man vergessen. Dann muss man wieder drücken. „Schranke wird geöffnet.“

Dreihundert Meter weiter in einer Talsenke wohnt Jussen. Das Haus aus dem 19. Jahrhundert samt Nebengebäuden, einem Nadelwäldchen und Wiesen ist eine typisch belgische Schönheit: Unvollkommen renoviert, mit tropfenden Dachrinnen und unaufgeräumtem Schuppen. Innen stehen Bolleröfen, die Decken sind niedrig, Balken und Streben ziehen sich durch die zehn winkeligen Räume. Vieles ist naturbelassen und verwildert, nach Landesart.

Ein versöhnlicher Klang

Heinz Jussen ist sechzig. Anfang fünfzig würde man auch glauben. Ein agiler Mensch von 1 Meter 72, lebhaft, drahtig. Er erzählt ruhig, mit klarem Blick und leichtem rheinischem Slang, was immer etwas versöhnlich klingt. Vor ein paar Wochen hat er einen Brief geschrieben an die Lokalzeitung. Er wolle in der „Berichterstattung zu den Vorwürfen gegen Bundesaußenminister Fischer Stellung beziehen“.

Dazu fühlen sich viele berufen. Heinz Jussen konnte mitteilen: „Ich weiß, wovon ich rede.“ Und zwar sehr genau: Jussen war siebzehn Jahre lang Polizist, bis 1975. Greiftruppausbilder, Wasserwerferkommandant und Lehrer für Selbstverteidigung in Antiterrorgruppen. Zornig war er: „Ich habe mich eines Abends hingesetzt, um die ganze Wut über diese scheinheilige Verlogenheit runterzuschreiben.“

Da schreibt er über Fischer: „Recht haben alle, die diesem prügelnden Apo-Knaben der siebziger Jahre zürnen und ihm rechtsbrecherisches und militantes Verhalten vorwerfen. Aber kein Recht kann ich denen zubilligen, die ihre eingeseift glitschigen Hände jetzt scheinheilig waschen.“ Gemeint ist die Staatsmacht. Die Polizei. Und: „Ich habe bis heute versäumt, mich zu entschuldigen.“ Die Lokalzeitung fertigte einen Bericht. Die Überschrift kam aus Jussens Mund: „Verzeiht mir die Dresche.“

„Diese Kampagne“, sagt Jussen, „ist eine dermaßen schmierige, dreckige Sache. Das hat mich so aufgeregt. Wenn ich diesen Merz höre, Fischer sei ein Straftäter gewesen – das ist bis ins Mark unfair.“ Sicher, Polizisten damals hätten auch „hin und wieder Dresche bekommen“, aber bitte: „Das war kaum zu vergleichen mit dem, was wir auf Teufel komm raus an Prügeln ausgeteilt haben.“

Der heute so austeilt, erzählt am besten erst mal seinen Lebensweg. Nach acht Jahren Volksschule kam 1954 die Bergmannslehre. 1958, er war kaum untertageberechtigt, folgte die große Bergbaukrise. „Ich war Leistungssportler, Judo und Mittelstreckenlauf, da lag Polizei nahe“, sagt er heute. Also Umschulung. Erst war Jussen Streifenpolizist. Mit gemischten Gefühlen: „Da merkte ich bald Diskrepanzen: streng tun und weggucken. Polizeistunde kontrollieren. Genau da gingen die Kollegen dann saufen.“

Jussen, der spätere Lehrer, wählt Pädagogenvokabular. „Als Streifenpolizist sanktioniert man nur. Immer kontrollieren, strafen, bestrafen. Das geht mir heute noch so bei Autokontrollen. Ich kenne dieses Gefühl von Wahnsinnsautorität auf der anderen Seite. Du spürst unglaubliche Macht.“ Mit zwanzig fand er das gut, „aber nicht auf Dauer. Ich war bald sehr ambivalent.“

Es musste doch Sinnvolleres im Polizeidienst geben. Jussen tauschte 1965 Teufel gegen Beelzebub: Ausbildung zum Kampfausbilder. Seine Judo- und Jiu-Jitsu-Künste waren begehrt, auch wenn er sagt, dass er „keine besonderen Erfolge“ erzielt hat. „Dritter bei den Landesmeisterschaften“ war er.

Sit-ins in Aachen

1967 gab es die ersten großen Ostermärsche, „da wurde es ernst“. Im gleichen Jahr Sit-ins in Aachen. „Wir mussten das auflösen.“ Knüppel frei. In der Erinnerung wieder das Vokabular von damals: „Klare Aufträge. Straßenbahnblockade, Störer. Die mussten beseitigt werden.“ Der Auftrag lautete: „Rädelsführer aus der Demonstrationsmasse herausfiltern. Hart gegen subversive Kräfte vorgehen.“

Anfang der Siebziger „wurde die Hysterie immer größer“. Spezialkommandos zur Terroristenbekämpfung wurden gebildet und Greiftrupps gegen Rädelsführer. Das Land galt als „gefährdet durch kommunistisch gesteuerte subversive Kräfte“, habe man eingebläut bekommen.

Alle Polizisten, erzählt Jussen, „aus dem westlichen Nordrhein-Westfalen, aus Köln, Bonn, Aachen, sind über meine Matte gelaufen, die habe ich ausgebildet“. Die tiefschwarze Rheinische Post staunte im November 1973 nach einer öffentlichen Kampfvorführung von Jussens Jiu-Jitsu-Schülern in Düsseldorf: „Fit und treffsicher wie James Bond.“ Ohne Rücksicht auf Verluste, schreibt die Zeitung: „Einer der Vorführenden, bei der Abwehr eines Angriffs von einer Stiefelspitze in den Unterleib getroffen, trat mit hochrotem Kopf und zusammengepressten Lippen zurück ins Glied.“

Jussens Mitbewohner Uli kommt zur Tür rein, als drallbrüstige Putzfrau verkleidet. Großes Gelächter. Uli geht zum Putzgruppeneinsatz im Karneval. Neben dem vierundvierzigjährigen Montessori-Lehrer leben in Jussens Haus die Frühpensionärin Johanna (48), gelegentlich Jussens Freundin Eva (51), eine dicke Katze und der Reitsportsattler Michael (39). Halb wohnt er im Haus, halb in einem Bauwagen im Garten. Johanna erzählt, sie habe bis zu Heinz’ ausführlichem Lebens-Outing „eigentlich immer nur Teile gewusst“.

In Jülich fanden 1970 die jungen Eltern Jussen keinen Kindergartenplatz für ihren Sohn Marc. Sie schlossen sich einer Kinderladeninitiative an. „Als Polizist war ich ein Exot.“ Es gab reichlich Debatten mit den anderen. „Trotzdem war ich der Meinung: Heinz, du hast deinen Job zu machen.“

Im Sommer 1974, beim NPD-Parteitag in Recklinghausen, kam „das einschneidende Erlebnis“. Polizeiauftrag war es, die Nationalisten vor den Demonstranten zu schützen – 5.000 waren es. Die Wasserwerfer reichten nicht. Also mussten „Reiterstaffeln im Galopp in geschlossener Formation her“. Die Aktion löste Panik aus, als die Pferde über eine Hecke sprangen, hinter der Demonstranten lagen. „Ich habe genau das Entsetzen einer Mutter mit Kind gesehen. Diese Augen habe ich nie vergessen.“

Dann Schlagstockeinsatz, Chaos. „Zweifel gab es immer, aber nach dieser Brutalität war Schluss. Ich wusste ja, wie leicht diese wahnsinnigen Aggressionen auch bei mir entstehen konnten. Aber ich hatte nicht mehr das Gefühl, dass das richtig ist. Es war in höchstem Maße brutal. Einfach staatliches Unrecht.“

Jussen gab scheibchenweise auf. Er war weiter Beamter und begann 1975 in Aachen ein Lehramtsstudium. „Spannend war das: Die Strukturen von Befehl, Gehorsam, Gehorchen noch gewohnt, konnte ich plötzlich Professoren widersprechen und zum Boykott von Veranstaltungen aufrufen. Das eine noch machen müssen wegen des Geldes, aber das andere wollen: Ich war völlig zerrissen.“

Die Übergangszeit war bizarr: Jussen engagierte sich im Sozialistischen Hochschulbund (SHB) und prügelte zugleich bei Demonstrationen. Anfangs stand er unter Spitzelverdacht, „weil ich immer so viel mitgeschrieben“ habe. Manchmal, wenn der Dienst länger dauerte, „wurde ich mit dem Polizeiauto zur Uni gefahren“. Auch zur SHB-Sitzung? „Kann durchaus sein.“

Der Schah besucht Berlin

Klack. Das Video läuft. Wir sind hochgegangen über knarzende Dielen, steile Treppen, zuletzt eine Hühnerleiter, zum Fernsehgiebel unterm Dach. Es läuft die Dokumentation „Der Polizeistaatsbesuch“ von Roman Brodmann aus dem Jahr 1967. Der Schah besucht Berlin. Jussens Exkollegen formieren sich. „Gegen elf Uhr“, sagt der Kommentar, „sind die ersten Demonstranten da. Vor dem Schöneberger Rathaus erwartet man die erste Welle des Widerspruchs.“ Wasserwerfereinsätze. „Da wäre ich drin gewesen“, sagt Jussen. Greifkommandos werden genannt und beim Zugriff gezeigt. „Ich hab es diesen Leuten beigebracht. Das war das Schreckliche.“

Die Jubelperser prügeln hemmungslos. Die Polizei hilft. „Widerlich“, sagt Jussen. „Aber wir waren durch und durch von dem Gefühl durchsetzt, dass das rechtens ist.“ Benno Ohnesorg wird erschossen, das Video ist zu Ende. „Mit der Zeit habe ich die Leute, die gegen die Perversionen unseres Systems kämpften, auch immer mehr geschätzt. Ich habe ja selbst diese ehemaligen Faschisten erlebt, all die Exnazis in der Führungsebene, unter den Ausbildern, diese Sprücheklopper. Es war eine Verlogenheit bis zum Ersticken damals. Später ist es passiert, dass ich Leuten ganz konkret direkt an der Barrikade gegenüberstand, mit denen ich kurz vorher bei Judo-Wettkämpfen auf der Matte gestanden hatte. Ich verstand immer mehr. Bis auf den Terrorismus, aber das Klammheimliche gab es auch bei mir.“

„Wenn die Gewerkschaft der Polizei heute verlangt, Fischer solle sich bei ihr entschuldigen“, schimpft Jussen, „dann, verdammt noch mal, sollten die auch einsehen, was die an Unrecht getan haben, und sich auch entschuldigen.“

Heinz Jussen holt einen Brief hervor. „Der lag neulich im Briefkasten, anonym.“ Inhalt: Eine Collage aus Fotos von damals. Demobilder. Polizeiaufmärsche. Blockaden. Mit Filzstift ist druntergeschrieben: „Danke für Deine Entschuldigung!“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen