Der Posteingang, das unbekannte Wesen: Ich hoffe, es geht euch gut
Wie viele unbekannte Seelen schlummern wohl im Mailprogramm? Der Blick zurück im Posteingang ist eine Reise in die Vergangenheit.
D er E-Mail-Posteingang ist das Tagebuch der Digitaleinheimischen. Die erhaltenen und versendeten Mails protokollieren, was wann mit wem geschah. Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis E-Mail-Slams populär werden. Die peinlichsten Korrespondenzen aus der Vergangenheit, wer will sich da nicht genüsslich fremdschämen? Ich mach mal den Anfang. Nichts zu danken.
Meine aktuelle Gmail-Adresse legte ich mir Anfang 2008 zu. Kurz darauf versandte ich einige Bewerbungsschreiben für Ferienpraktika – von denen ich kein einziges bekam. Kein Wunder, denn ich sparte nicht an Klischees, bezeichnete mich als „teamfähig“, „ordnungsliebend“ und „freundlich im Auftreten“. Warum man mich als Sommeraushilfe bei der städtischen Bücherei in Erwägung ziehen solle? „Weil ich ein viel lesender und an Literatur sehr interessierter Mensch bin.“ Qualifizierter geht’s kaum.
Den Beweis, wie freundlich mein Auftreten damals war, finde ich zehn Monate später. „Du versendest Spam, du Schlampe“, schrieb ich in die Betreffzeile einer E-Mail, adressiert an eine Freundin. „Vielleicht solltest du mal checken, ob du einen Virus hast oder ob jemand dein Passwort geknackt hat oder so.“ IT-Sicherheitsspezialistin zog ich damals als Beruf nicht in Erwägung, wo es doch in der Bücherei schon nicht geklappt hatte. Schade eigentlich.
Stattdessen wechselte ich mein Studium und organisierte dafür eine Lerngruppe. Das zeigen E-Mails vom Oktober 2008 an „Tony“, „Miles“ und „Thomas“. Wie die drei aussehen, ist mir ebenso entfallen wie der Inhalt der Besprechung. Wer auch immer ihr seid, ich hoffe, es geht euch gut.
Wie viele unbekannte Seelen schlummern wohl noch in meinem Posteingang? Über die Jahre kommunizierte ich mit Hunderten Menschen, ohne sie je zu Gesicht zu bekommen. Die Betreiberinnen und Betreiber von Herbergen, in denen ich Unterkünfte suchte für die Jugendorganisation, bei der ich mich engagierte. Die freien Autorinnen und Autoren, deren Beiträge ich für meine erste Stelle nach dem Studium redigierte. Zum Beispiel Deena, die mir 2014 mal nette Mails schrieb, in denen sie eine ungewöhnliche Schrift verwendete. Wie sie ihre Haare am liebsten trägt, mit welchem Dialekt sie wohl spricht? Oder Bodo, für den ich ein Forschungsprojekt begann, aber nie fertigstellte. Lässt er gerne die Fingergelenke knacken?
All die nie wahrgenommenen Gelegenheiten. Paralleluniversen auf kleinstem Raum. Was wäre geschehen, hätte ich ein Treffen für Freiwillige bei einer Kinderhilfsorganisation im März 2015 nicht kurzfristig abgesagt? Meine Ausrede, mir sei „Arbeit dazwischen gekommen“, glaube ich mir selbst nicht. Wäre es doch eine gute Idee gewesen, zur Hochzeit des Ex-Freundes zu fahren? Und wieso konnte ich mich nicht aufraffen, zu dem feministischen Schnupperkrafttraining zu gehen? Meine heutige Schlagkraft wäre unübertroffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Israel und Hisbollah
Waffenruhe tritt in Kraft
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich