Der Polit-Taktiker Jens Spahn: Mit Cowboymethoden
Vorpreschen, Kritik auslösen, zurückrudern: Jens Spahn praktiziert eine erfrischende Form von Antimerkelismus.
J ens Spahn ist der Cowboy der deutschen Corona-Politik. Der CDU-Gesundheitsminister prescht vor, löst Kritik aus, sowohl an seinem Stil wie am Vorschlag. Dann rudert er zurück, um wenig später einen Vorschlag zu unterstützen, der auch Kritiker zufriedenstellt. So geschehen bei der Debatte um die Technologie für die Corona-App. Erst favorisierte Spahn die zentrale Speicherung der Verdachtsdaten auf die Covid-19-Infektion, dann aber schwenkte die Bundesregierung auf die dezentrale Lösung ein. Die Datenschützer jubelten.
Jetzt hat er es schon wieder getan. Spahn denkt laut über einen Immunitätsausweis nach, Patienten- und Behindertenverbände, die Opposition protestieren – der Gesundheitsminister legt seine Pläne wieder auf Eis.
Man kann dafür Sympathie haben, wie der Minister vorgeht. Einen Vorschlag in die Öffentlichkeit zu stellen, die Diskussion zu verfolgen und dann darauf einzugehen, sogar schnell, das ist eine erfrischende Form von Antimerkelismus. Es entspricht sogar mehr dem modernen Forscherbild, das sich während der Coronakrise in der Öffentlichkeit langsam abzeichnet.
Die Kanzlerin als Naturwissenschaftlerin, lange abwägend, bis sie ein sicheres Urteil fällen kann – im Gegensatz dazu erleben wir Virologen und Epidemiologen, die sich öffentlich in den wissenschaftlichen Diskurs stürzen und auch revidieren, ohne ihre Souveränität zu verlieren. Nimmt sich Spahn also ein Beispiel an den Drostens, Streecks und Kekulés dieser Tage?
Interesse an Datenerfassung
Für ein eindeutiges Urteil ist es noch viel zu früh. Auch hinter dem Immunitätsausweis steckt das Interesse, Gesundheitsdaten zentral zu erfassen, diesmal nicht der infizierten, sondern der immunisierten Personen. Es würde unweigerlich in eine Zweiklassengesellschaft führen, was Bürger- und Freiheitsrechte angeht. Und sogar die bestrafen, die sich vorbildlich an die Vorgaben der Regierung gehalten haben, damit die Infektionszahlen sinken.
Und auch wenn Jens Spahn nun den Ethikrat um Stellungnahme gebeten hat: Souverän wäre es gewesen, hätte er die Pläne nicht nur auf Eis gelegt, sondern sie ganz in die Tonne getreten.
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