Der "Perlentaucher" wird 10: Kulturhäppchen vom Schnellimbiss
In ist, wer drin ist? Seit zehn Jahren fasst der Perlentaucher die Feuilletons großer deutschsprachiger Zeitungen online zusammen. Doch die Website polarisiert.
BERLIN taz | Seine "Currywurstbude" gründete Thierry Chervel vor zehn Jahren. Mit "Currywurstbude" meint der ehemalige taz-Kulturjournalist die Website Perlentaucher, den kleinen Familienbetrieb, mit dem man gut verdient, aber nie reich wird. Thierry Chervel und Freundin Anja Seeliger leiten die Redaktion, deren Bruder Niclas Seeliger ist Geschäftsführer. Jeden Morgen fassen Chervel, Seeliger und Redakteurin Thekla Dannenberg die Feuilletonseiten großer deutschsprachiger Zeitungen zusammen und veröffentlichen das dann in mundgerechten Häppchen.
Monatlich wird Perlentaucher fast 800.000-mal von einem vor allem akademischen Publikum aufgerufen. In den Kulturredaktionen ist die tägliche Presseschau inzwischen unentbehrlich, fasst sie doch in wenigen Sätzen Feuilletonartikel zusammen, die die Perlentaucher-Redaktion für wichtig hält. "Wer im Perlentaucher zusammengefasst wird, ist in der Szene wer", sagt Burkhard Müller-Ullrich, Moderator bei Deutschlandradio Kultur. Doch die kurzen Texte kratzen auch am Image des Kritikers, denn in ihnen verwandeln sich die Feuilletonredakteure: Aus distanzierten Beobachtern werden emotional Handelnde, die sich über Künstler wundern, empören, freuen oder ärgern.
"Perlentaucher hat Schwung in den Diskurs gebracht, weil man schon morgens aussortieren kann, was man nicht lesen will", sagt Müller-Ullrich. Die andere Seite der Medaille formuliert die Feuilletonredakteurin Hilal Sezgin: Perlentaucher zu lesen sei ein Symptom der Faulheit, "weil es zu umständlich wäre, alle Zeitungen selbst zu lesen". Die "verperlentaucherte" Version widerspreche häufig der Aussage der Originalartikel. Diese Sichtweise wurde beispielsweise in einem Gerichtsprozess bestätigt, den die FAZ gewann. Die Perlentaucher-Redaktion hatte einen Artikel kühn auf die Forderung verkürzt, Schulstunden über Auschwitz zu reduzieren.
Andererseits klagen FAZ und Süddeutsche Zeitung bisher vergeblich vor Gericht dagegen, dass ihre Artikel überhaupt wiedergegeben werden. In einem FAZ-Artikel drückte ein Autor es 2007 so aus: Der Perlentaucher verdiene Geld mit "den aufgeschriebenen Gedanken anderer Leute". Die Gerichte entschieden in zwei Instanzen aber für den Perlentaucher, die Verlage haben vor dem Bundesgerichtshof Revision eingelegt.
Immer wieder ärgern sich die Feuilletonredaktionen auch über Seitenhiebe auf ihre Autoren in der Perlentaucher-Presseschau. "Die Kommentare sind polemisch und außerdem eine Vermischung von Nachricht und Meinung, die den ursprünglichen Anspruch der Seite zunichtemachen", sagt Sezgin. Fragwürdig seien auch die Meinungen, die da publiziert würden, da die Perlentaucher-Redaktion eine "islamkritische Linie" fahre.
"Insbesondere beargwöhnt Perlentaucher den Islam und gefällt sich darin, Essays zum Kulturkampf als erkenntnisfördernd zu präsentieren", schrieb Sezgin jüngst in einem Artikel in der Zeit. Müller-Ullrich antwortete daraufhin im Deutschlandradio, eine Debatte über das "Vordringen des Islam in Europa" würde jedem prominenten Feuilleton gut stehen.
Trotz dieser Kontroversen erweiterten Thierry Chervel und Anja Seeliger die Arbeit von Perlentaucher im Laufe der Jahre. Zum fünften Geburtstag ging eine englischsprachige Schwesterseite online, die deutsche Artikel ins Englische übersetzt und veröffentlicht. Eine richtige Expansion war aber dann ein Auftrag der Bundeszentrale für Politische Bildung für die Website Eurotopics, die täglich eine europäische Presseschau produziert.
Perlentaucher stellte neue Redakteure ein, der Gewinn schnellte hoch von 14.000 Euro im Jahr 2005 auf 100.000 Euro zwei Jahre später. Doch als 2008 das Projekt neu ausgeschrieben wurde und Perlentaucher es an das Journalistennetzwerk n-ost verlor, schrumpfte das Unternehmen auf 11.000 Euro Gewinn und die Anfangsgröße zusammen. "Das war ein schwerer Schlag, aber wir haben die zehn Jahre vor allem überlebt, weil wir in ganz bescheidenem Rahmen eine Nische besetzt haben", sagt Thierry Chervel.
In dieser Nische tummelt sich ein kaufkräftiger Teil der Gesellschaft. Bereits zwei Jahre nach ihrer Gründung stellte die Perlentaucher-Redaktion in einer Umfrage fest: Mehr als die Hälfte der Leser verdienen netto mehr als 2.000 Euro, zwei Drittel kaufen sich im Jahr mindestens 20 Bücher. Heute hat sich daran nur geändert, dass die Seite viermal so oft abgerufen wird wie zum Zeitpunkt der Umfrage und dass die Bücher, von denen die Rede ist, per Mausklick bestellt werden können. "Ohne die Buchverlage hätten wir es nicht geschafft", sagt Chervel.
Zum zehnten Perlentaucher-Geburtstag hat Thierry Chervel erst einmal keine großen Pläne. Er wartet den Sommer ab, weil der Bundesgerichtshof dann entscheidet, ob das Geschäftsmodell legal ist. "Man weiß ja nie, wie so etwas ausgeht", sagt Chervel. "Wenn alles gut geht, können wir darüber nachdenken, das Geschäftsmodell auch über das Feuilleton hinaus auszuweiten." Wenn nicht, müssen Journalisten bald wieder selbst Zeitung lesen.
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