: Der Moralist im schwarzen Golf
Im Zwischenreich der Subversion: Der Rechtsanwalt und Schriftsteller Georg M. Oswald schildert in seinem Roman „Alles was zählt“ mitleidlos und präzise das Scheitern in der neuen Wirtschaftswelt. Ein Houellebecq aus Bayern? Jedenfalls möchte er nicht mit Schnöselliteraten verwechselt werden
von VOLKER WEIDERMANN
Eine Existenz wird vernichtet. Ein Erfolgsmensch, der Lebenslauf und Lebensformen aufs Genaueste den Erfolgsmenschen seiner Umgebung, den Modellathleten des neuen Wirtschaftslebens, nachgebildet hat, wird aussortiert. Ein zufälliges, unwichtiges Opfer, wie nebenbei zertreten von einer ebenso zufälligen, nur eben mächtigeren Person. Thomas Schwarz war stellvertretender Leiter der Abteilung Abwicklung und Verwertung bei einer Bank. Die Leute von „Abwicklung und Verwertung“ kommen ins Spiel, wenn ein Kredit offenbar nicht mehr zurückgezahlt werden kann, wenn er „Not leidend“ wird, wie man in Bankerkreisen so sagt. „Abwicklung und Verwertung, das heißt: Chaos, Nervenzusammenbruch, geschlossene Anstalt, Selbstmord, Mord.“ Stefan Schwarz ist der Totengräber einer Branche, die ihn schon bald selber vernichten wird.
„Alles was zählt“ heißt das neue Buch des 36-jährigen Münchener Schriftstellers und Rechtsanwalts Georg M. Oswald, und alles, was in der Welt dieses Romans zählt, ist das Geld, der Erfolg, die richtigen Freunde, die richtigen Markennamen und der makellose Lebenslauf. Scheinbar leicht durchschaubare Orientierungspunkte in einer weitgehend orientierungslosen Gesellschaft, scheinbar leicht nachvollziehbare Steighilfen auf dem Weg nach oben. Doch trotz perfekter Regelbeachtung stürzt Stefan Schwarz. Und er stürzt allein. Der alte Kollegen- und Freundeskreis wendet sich ab, reibt sich die Hände. Im Roman heißt es: „Man muss beileibe kein Sadist sein, um sich daran zu erfreuen, wie ein anderer zerbricht. Das grundlegende Prinzip unseres Daseins ist der Ausschluss der anderen. Jeder ist ein potenzieller Gegner, der einem etwas wegnehmen könnte, also freut man sich, wenn es ihn erwischt. Ist doch normal.“
Georg M. Oswald sitzt auf einer schattigen Bank in einem Biergarten am Ufer des Staffelsees bei einem Weißbier. Vor ihm auf dem Tisch liegt „Die Anatomiestunde“ von Philip Roth. Er grummelt: „Ach, das ist doch keine Debatte. Ärgerlich ist das, wenn der Herr Professor nicht mal richtig lesen kann.“ Mit dem „Herrn Professor“ ist Diedrich Diederichsen gemeint, der Oswald in der taz-Literaturdebatte vorgeworfen hatte „Kritik“ grundsätzlich für nicht mehr möglich zu halten und „Affirmation“ als brandneue Alternative zu alternativem Losertum ausgegeben zu haben. Damit hatte sich Diederichsen für sein Exempel in der Tat den falschen aus der Garde der jungen deutschen Schriftsteller ausgesucht. Georg M. Oswald ist genau das Gegenteil jener so genannten Schnöselliteraten, die reine Affirmation als die letzte mögliche Form der Weltkritik betrachten. Georg M. Oswald ist der Moralist unter den deutschen Jungautoren.
Lediglich die Subversion hatte er in seinem Beitrag in der taz verabschiedet, da die grundsätzliche Kritik, „früher Systemkritik genannt“, längst in den Warenkreislauf integriert und ins Positive gewendet worden sei. Und jetzt im Gespräch lacht er, als er sich vorstellt, wie Michel Houellebecq, der Schriftsteller, der in den letzten Jahren am eindringlichsten das Unglück des Einzelnen in einer Gesellschaft beschrieben hatte, die den Menschen auf unerträgliche Weise mit seinen uneinlösbaren Glücksvorstellungen malträtierte, wie dieser Michel Houellebecq jetzt als Millionär im Kreise seiner Familie in seinem schönen Haus in Irland sitzt, der Star einer Gesellschaft, die er verachtet, und – der jetzt glücklich ist? Houellebecq ist jetzt glücklich? Na, glücklich vielleicht nicht. Glücklich vielleicht dann doch nicht. Aber populär und reich. Weltstar der Weltverachtung.
Nein, die Möglichkeiten der Subversion sind in der Tat gering; in Zeiten, in denen Bankinstitute T-Shirts mit der Aufschrift „Revolution“ verteilen, wirken die ganz großen, die grundsätzlichen Gesten bestenfalls lächerlich. Oswald setzt darauf, „die Oberfläche unserer Gesellschaft mit kaltem, kritischem Blick zu erkunden“, schrieb er in der taz.
Und jetzt sitzt er aber erst mal beim kalten, unkritischen Bier und schaut auf den See. Es ist sein Urlaub, hier, am Staffelsee, eine Autostunde von München entfernt, am Rande der Alpen. Ein wunderschöner Ort. Der Biergarten liegt direkt am See, daneben die Liegewiese, auf der sich Münchener Schriftsteller wie zufällig treffen. Andere Leute treffen sich auch. Aus München oder Garmisch. So fürs Wochenende. Georg Oswald ist mit seiner Kleinfamilie da, mit Frau Nina und dem vierjährigen Sohn Simon, der die ganze Zeit mit einer kleinen Freundin Sandkuchen backt und Steine sammelt oder sich von Schwimmflügeln übers Wasser fliegen lässt. Und abends fahren die Oswalds dann im schwarzen Golf-Variant auf einen Bauernhof, der einsam auf einer Wiese steht, so mit Kühen, Hühnern, gefährlichen Hunden und einer Bäuerin, die schon kurz nach der Begrüßung stolz von ihrer neuen Informationswasseranlage berichtet, die sie erst kürzlich einem Herrn Grander für dreitausend Mark abgekauft habe. Das gesamte Leitungswasser des Hauses wird jetzt an einem „Informationskästchen“ aus Blech vorbeigeleitet, das die natürlich vorhandenen Informationen des Wassers neu ordnet und das auch danach noch recht unscheinbar wirkende Wasser zu so genanntem belebtem Wasser macht. Das hilft dann gegen Allergien und Neurodermitis, und die Kühe, sagt die Bäuerin, geben schon entschieden mehr Milch. Sodass sie jetzt sogar das Kraftfutter absetzen kann. – Da setzen wir uns abends auch gern noch mal auf ein Info-Wässerchen zusammen.
Der Jahresurlaub von Georg Oswald dauert nur vier Tage. Dann muss er zurück in die Kanzlei, am Ende der Woche steht ein zehntägiger Stipendienaufenthalt bei der Arno-Schmidt-Stiftung an, und dann beginnt auch schon die Lesereise mit seinem neuen Roman durchs ganze Land. Das Nebeneinander von Rechtsanwaltjob und Schriftstellerdasein ist nicht immer leicht zu organisieren. Obwohl. In seine Schilderungen klingt das ganz ideal: Wenn er an einem Roman arbeitet, ist der Tag in der Regel klar zweigeteilt. Morgens geht er zum Schreiben in die Bibliothek und nachmittags in die Kanzlei, die er sich mit zwei Steuerberatern teilt. Das Geld aus der Halbtagskanzlei reicht für die Familie zum Leben, das Schriftstellerhonorar noch nicht. Vielleicht bald. Die erste Auflage von „Alles was zählt“ war jedenfalls schon nach zehn Tagen vergriffen.
Aber Oswald betrachtet das Juristendasein nicht als lästigen Broterwerb. Der Anwaltsberuf, Schwerpunkt Arbeitsrecht, liefert wesentliche Anregungen für sein Schreiben, tägliche Einblicke in die modernen Arbeitswelten, in unterschiedlichste Arbeitsbiografien. Und in das Selbstverständnis junger, erfolgreicher Arbeitskräfte mit jäh abgeknickten Modellbiografien, wie jenes Thomas Schwarz, des Protagonisten aus „Alles was zählt“, der jahrelang ein Bilderbuch-Aufsteigerleben führte, gnadenlos menschliche Untergänge veranlasste und später, als es so weit ist, seinen eigenen Untergang mit einem gewissen Verständnis akzeptiert, ja sogar konsequent und fachmännisch beschleunigt. Anwalt Oswald hat nicht etwa ein flammendes Plädoyer für ein stürzendes Arschloch geschrieben, sondern den mitleidlosen, präzisen Bericht eines Scheiterns in der schönen neuen Wirtschaftwelt. Einen Bericht über Menschen, die das System, in dem sie leben, so rückhaltlos zu akzeptieren gelernt haben, dass sie lieber sich selbst bekämpfen und verachten als die Mechanismen, die sie in den Abgrund stürzen. „Unsere Literatur hat die Aufgabe, den Menschentypus zu beschreiben, den unsere neue Gesellschaft hervorgebracht hat. Und je schonungsloser der Blick, desto besser“, hatte Oswald in der taz geschrieben. Jetzt im Gespräch sagt er: „Klar, ich bin Moralist. Wenn ich es gelegentlich leugne, dann nur, weil ich nicht Besserwisser genannt werden will. Ich weiß es ja auch nicht besser.“
Obwohl es manchmal beim Lesen so scheint. Sein letztes Buch, den 1998 erschienenen Bericht „Party Boy“, konnte man durchaus so lesen. „Party Boy“ ist eine aus Internetberichten kompilierte Suche nach Andrew Cunanan, dem mutmaßlichen Mörder Gianni Versaces. Es ist die Beschreibung einer Wirklichkeitsentwicklung, des Entstehens eines angeblichen Faktums aus dem Willen zum Gerücht. Aus dem Willen zur großen Nachricht. In den zusammengestellten, realen Berichten, die nach dem Versace-Mord im Internet erschienen waren, wird das Phantom Cunanan Stück für Stück zum Monster. Oswald stellt dieser Kompilation zwei fiktive Journalisten zur Seite: den Boulevardjournalisten, der unbeeindruckt von der unbekannten Wirklichkeit seine eigene Cunanan-Geschichte schreibt, und den Moralist, der beharrlich auf die dünne Faktenlage verweist.
Ja, das kann einen beim Lesen durchaus an das hochmoralische Bekenntnisschreiben eines Heinrich Böll erinnern. „Ach was“, sagt Oswald. „Es ging mir um die Darstellung von Mechanismen und Positionen. Sonst nichts.“ Doch dann, nach einiger Zeit, meint er: „Gut, nenne ,Party Boy‘ ein moralisches Buch im Böll’schen Sinn. Das trifft es wahrscheinlich sogar, und ich habe nur deshalb so vehement widersprochen, weil ich mich ertappt fühlte. Und weil den Namen Böll so eine Aura der Biederkeit umgibt, mit der ich nichts zu tun haben will.“
Doch mit Biederkeit haben die Bücher Georg M. Oswalds gar nichts zu tun. Der Vorwurf wäre absurd. Genauso absurd wie der, ihn einen unkritischen Affirmationsliteraten zu nennen. Im Internetprojekt ampool.de hat er Diedrich Diederichsen schon vehement widersprochen. Wir unterstreichen das hier noch mal: Sie irren sich, Herr Diederichsen. Hier irren Sie sich sehr.
Bücher von Georg M. Oswald: „Das Loch“. Erzählungen. Knaus Verlag 1995, 190 Seiten, 34 DM. „Lichtenbergs Fall“. Ein Roman. Knaus 1997, 206 Seiten, 36,80 DM. „Party Boy“. Ein Bericht. Knaus 1998, 141 Seiten, 29,90 DM. „Alles was zählt“. Ein Roman. Hanser Verlag 2000, 192 Seiten, 34 DM
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