Der Mann und das Hamburger Totenhaus: Knastrebell im Strafvollzug
Denis Pécic kennt seine Eltern nicht und ist staatenlos. Im Knast wurde er als Autodidakt Jurist und Journalist. Nebenbei räumte er in der Hamburger Strafvollzugsanstalt Fuhlsbüttel auf.
HAMBURG taz | Ein kleiner Herr von 165 Zentimetern wartet in einem Anzug mit breiten Revers vor der Tür und bittet herein in sein Leben. "Denis Pécic" hat er auf sein Klingelschild geklebt. Auf seinem Gesicht breitet sich ein rosiges Geburtstagslächeln aus. Im Flur stapeln sich gelbe Aktenordner unter der Decke. Das müssen zigtausende von Seiten sein. Der 82-Jährige bewohnt de facto ein Archiv. Überall lagert etwas. Bögen, Briefe, Fotografien, Fotokopien, Hefter und Manuskripte. Später erklärt sich das: Seine Wohnung ist der begehbare Beweis seines Lebens.
Denn allein, dass er noch lebt, verblüfft. Krebs, Malaria, Hirnhautentzündung und ein Flugzeugabsturz schaffen ihn nicht. Noch keine 20 Jahre alt, kämpft der jugendliche Pécic als Fremdenlegionär mit der Nummer 39 437 gegen Viet Minh und Piraten im Indochinakrieg. Scheinbar ohne Blessuren steckt er auch 35 Jahre Zuchthaus weg.
Wer ist dieser kleine, breitschultrige Mann mit französischem Akzent? Denis Pécic ist er jedenfalls nicht. Auch wenn das in seinem Personalausweis steht. Seine wahre Identität und sein exaktes Alter hat der staatenlose Herr Pécic nie herausfinden können, und auch das ist erstaunlich. Bei allem, was er sonst hinbekommen hat.
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Als im Mai 1940 die französische Luftabwehr einen deutschen Bomber vom Himmel holt, sterben mit dem zerschmetternden Flugzeug auch seine Eltern, und die ersten 12 Jahre seiner Erinnerung verglimmen ebenfalls. Er erwacht im Krankenbett, und sein Arzt, Monsieur Plessis, nimmt den Jungen auf. Doch in der neuen Familie wird er es nicht lange aushalten. Es beginnt ein Weglaufen und Suchen, das ein Leben lang andauert. Heim: Flucht; Internat: Flucht; Klosterschule: Flucht. Schließlich nimmt sich eine Paula Pécic des Jungen an. Sie meint, in ihm ihren verloren gegangenen Sohn zu erkennen. Eine Verwechslung. Der 17-Jährige geht der Geschichte auf den Grund und reist durch vom Krieg zerlöcherte Landschaften. Bis nach Jugoslawien. Dort stellt Denis fest, dass ein anderer Paula Pécic' Sohn sein muss. Wieder flieht der junge Mann, will jetzt zur Luftwaffe. Doch er bräuchte die Einwilligung seiner Eltern. Es kommt anders. Ein Leutnant der Fremdenlegion spricht ihn an.
Mit dem Corps Expéditionaire Français de l'Indochine landet Denis Pécic am 25. März 1947 in Saigon. Die nächsten zwei Jahre lassen ihn erwachsen werden, als Sergent in Offiziersfunktion. Mit 20 Jahren befehligt er die Härtesten der Harten an der Grenze zu China.
Der rundliche Herr Pécic mit der goldumrandeten Brille aus den 70er Jahren, der auf seinem Sofa in Hamburg mit den Beinen wippt und lächelt, erwirbt sich in der Fremde Südostasiens den Namen "le Fonceur". Der Draufgänger. Erinnerungsfetzen reiht er halb auf Deutsch, halb auf Französisch aneinander. Ein manisches Stakkato vom Donnern der Flak, aufgeschlitzten Franzosen, Racheaktionen, erbitterten Schlachten in unzugänglichen Tälern und Bergen, ein Himmelfahrtskommando und drei Kampfauszeichnungen, die er erhält. Eine Achterbahnfahrt ist das, schon beim Zuhören. Am Ende verriet er einer besorgten Gattin, wie ihr Mann in der Legion von den eigenen Leuten liquidiert und verscharrt wurde. Sergent Denis Pécic verstößt gegen das eiserne Gesetz des Schweigens und wird am 5. Dezember 1950 in Hanoi in Abwesenheit zum Tode verurteilt.
Er steht auf, holt einen der unzähligen Ordner und zeigt ein Dokument aus dem Jahr 2004. Es ist die Revision des Todesurteils.
Damals, in den Wirren der Nachkriegszeit, flieht er in die Schweiz, wird nach Österreich abgeschoben, übertritt die Grenze nach Deutschland und wird wegen illegaler Einreise unter dem Namen Denis Mennard verhaftet. Monate im Bau. Dann will er nach Amerika. Aus Denis Pécic wird Jonny Forvin. Er sagt, er sei ein Flüchtling aus Jugoslawien. Er lernt Männer kennen, die ihm helfen wollen, auszuwandern und an Geld zu kommen. Das Todesurteil sitzt ihm im Nacken. Er beteiligt sich an einem Juwelenraub. Mit einem 11,45-mm-Colt.
Die großkalibrige Waffe, die er verwendet, wurde bereits bei einer ganzen Serie von Verbrechen eingesetzt. Er sagt, er hätte es nicht gewusst. Aber er büßt dafür. Weil er fürchtet, dass seine Flucht von der Fremdenlegion bekannt wird, schweigt Denis Pécic, und die Mittäter kommen davon. Das Schwurgericht Nürnberg verurteilt ihn im April 1952 zu 12 Jahren Haft, Zuchthaus Straubing.
Immer wieder steht der alte Herr Pécic vom Sofa auf und belegt seine Worte mit neuen Dokumenten und Fotos. Eine Rotweinflasche ploppt.
Im Zuchthaus inhaliert er Wissen. Kiloweise besorgt er sich Literatur aus dem Amerika-Haus: Mathematik, Hochfrequenztechnik, Aerodynamik. Der Juwelendieb ohne Schulabschluss entwickelt im Knast einen Flugzeugantrieb. Er lässt 1964 die Erfindung als "Kombinierte Düsentriebwerke mit dem Antriebseffekt der Gegenreaktion" patentieren. Nicht sein einziges Patent. Dann kommt er nach über einem Jahrzehnt wieder frei. Allerdings nur wenige Monate. Denn er will sich an den Kumpanen rächen, die ihm die lange Haft eingebrockt haben. Er schlittert in ein weiteres krummes Ding, begeht einen Banküberfall, bei dem ein Mann stirbt. Der Indizienprozess überführt Denis Pécic des Mordes. Dazu sitzt er sechs Jahre in Untersuchungshaft und bekommt schließlich 15 Jahre Knast und "lebenslänglich". Bis heute bestreitet er die Tat. Im Auto habe er gesessen, niemanden getötet. Diese Gewissheit treibt ihn in seinen zweiten Feldzug, einen Krieg gegen die deutsche Justiz.
Dienstag, der 26. Januar 1971: Es ist der düsterste Tag im Leben von Denis Pécic. Er strandet in der Hamburger Anstalt Fühlsbüttel, genannt Santa Fu. Der Mann, der sich wie ein Berserker Wissen aneignet und tüftelt, weigert sich, hier zu arbeiten. Der Lohn liegt bei 1,10 DM pro Tag. Pécic sagt, er sei kein Sklave des Staates. Er will seine Zeit nutzen, um sein Patent ins Englische zu übertragen und die Wiederaufnahme seines Verfahrens zu erreichen. Es folgt Arrest. Er schreibt juristische Beschwerden, das hat er sich in Straubing beigebracht. Arrest verlängert.
Pécic kontert, beruft sich auf sein Recht auf Selbstbeschäftigung. Er muss nun mit juristischen Mitteln um alles kämpfen. Isolationshaft. Der Gefangene Pécic soll die anderen Inhaftierten nicht aufwiegeln. Mal sehen, wer den längeren Atem hat, sagt der Anstaltsleiter. Für Pécic werden es Jahre, die er nun allein verbringt. Er liest, schreibt. Wenn er mitbekommt, dass ein anderer wegen Arbeitsverweigerung in Arrest muss, schreibt er auch für den juristische Beschwerden. Die Leitung tobt über die Renitenz des Gefangenen P 3528.
Sie nehmen ihm die Le Monde weg und sein Radio. Einen Empfänger Marke Eigenbau versteckt er in den ausgehöhlten Beinen seines Tisches. Pécic befindet sich im Kampfmodus des Legionärs. Psychologische Kriegführung, Zermürbungstaktik, sein Ziel: Vernichtung des Gegners. Auf Sanktionen folgen Rechtsmittel. 64.000 Mark kostet das die Justiz allein 1971. Sie bringen ihn ins Irrenhaus. Rechtsmittel.
1972 wird er einer der Initiatoren der Gefängnisrevolte von Santa Fu. Die fegt die reaktionäre Anstaltsleitung weg. Ein neuer Leiter bringt offene Zellen, Freiheit und Mitbestimmung. Denis Pécic also behält den längeren Atem. Er hilft dabei, aus dem Totenhaus Santa Fu einen Reformknast zu machen. Mit Auswirkungen in ganz Deutschland. In gerade mal 6 Monaten schließlich legt er, noch in Isolationshaft, einen "Alternativentwurf zum Regierungsentwurf des Bundesgesetzes über den Strafvollzug" hin.
Die von der Bundesregierung eingesetzten Professoren brauchen zwei Jahre für einen vergleichbaren Text. Weil Pécic' Analyse von Kenntnisreichtum strotzt, geht sie in den Kommentar zum Strafvollzugsgesetz ein und prägt ihn bis heute mit. Das bestätigt Johannes Feest, Rechtswissenschaftler und Autor des Werkes. Er kennt Pécic seit 1986. Noch als Gefangener wird der zu juristischen Tagungen geladen. Bundestagsabgeordnete wollen ihn sehen, die "Tagesschau" berichtet. Es folgen Gesetzentwürfe zur Haftverschonung von Müttern, auch ein Antrag an die UN-Vollversammlung. Gefangene sollen gerecht entlohnt und sozialversichert werden - bis heute unerreicht.
Für den Justizapparat aber bleibt Pécic eine "schizoid-narzisstische Persönlichkeit", die "ein Engagement zum Thema Strafvollzug von fanatischer Eindimensionalität" an den Tag lege. In Deutschlands Knästen aber ist der Legionär nun legendär. Denis Pécic übernimmt schließlich von einem Beamten den Job als Leiter der Anstaltsbibliothek. Er besorgt Bücher, Bücher, Bücher. Wissen, sagt er heute, sei seine Chance gewesen, zu überleben. Er will das auch anderen ermöglichen, gründet die erste Fernsehstation in einem Knast, schreibt unermüdlich und baut zusammen mit Johannes Feest das Strafvollzugsarchiv auf, das bis heute Missstände aufdeckt.
Am 9. Oktober 1986 verlässt Denis Pécic Santa Fu als freier Mann. 21 Kartons voller Akten nimmt er mit. Zeugnisse seines Lebens. So akribisch, wie er Düsenantriebe konzipiert oder Gesetzentwürfe schreibt, so akribisch, wie er sein Leben beweist, so recherchiert er die Tat, für die er 20 Jahre im Gefängnis büßt. Eine Wiederaufnahme scheitert. Er klagt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf seine Rentenansprüche. Sie bleiben ihm verwehrt.
Sechs Stunden redet Denis Pécic ununterbrochen. Er gibt noch einen Ordner mit: 500 Seiten von seiner Zeit im Knast. Drei weitere Bände hat er geschrieben. Ebenso umfassend.
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