■ Der Kosovo-Krieg und die Folgen (1): Die Nato-Intervention war richtig. Doch ein Modell für kommende Kriege ist sie nicht: Wann darf der Westen eingreifen?
Der Krieg im Kosovo ist vorüber; aber niemand weiß, ob damit auch die miteinander verketteten Balkan-Kriege der 90er Jahre beendet sind. Die hitzigen Auseinandersetzungen um die Legitimität der Nato-Intervention finden jetzt ihre Fortsetzung im Streit um Ergebnisse und Folgen.
Um die Karten auf den Tisch zu legen: Ich habe die militärische Intervention des Westens für gerechtfertigt gehalten und öffentlich verteidigt. Diese Zustimmung im Prinzip bedeutet freilich nicht Kritiklosigkeit gegenüber der Art der Kriegführung und schon gar nicht Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern. Politik entgeht nicht tragischen Güterabwägungen; politisches Handeln muß im Bewußtsein dieser Tragik geschehen.
Auch im nachhinein nehme ich vieles wahr, was meiner Zustimmung weitere gute Gründe gibt. Die Absicht, das Miloševic-Regime aus der Luft zu ermatten, hat sich verwirklichen lassen. Die schrecklichen Funde von Massengräbern bestätigen den systematischen Charakter des Mordens – und widerlegen die These vom Bürgerkrieg mit Akten spontaner Gewalt. Aber auch die Gegner der Nato-Intervention – wie György Konrád – fühlen sich nachträglich gerechtfertigt. Vielleicht ist es für uns alle zu früh, um wirklich zu bilanzieren. Vielleicht müssen alle die Perspektive erweitern – in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein: in die Vergangenheit, um zu fragen, ob denn die moralisch-universalistische Dimension eines Kriegs historisch neu ist; in die Zukunft, um zu fragen, ob der Kosovo-Krieg Prototyp für die Kriege des 21. Jahrhunderts ist.
Die moralische Dimension der Außenpolitik ist nicht neu; sie erscheint nur denen als neu, die Kriege nur aus nationalen oder ökonomischen Interessen erklären wollen. Manche machen aus diesem unzureichenden Erklärungsansatz geradezu eine Norm; für sie sind Kriege, wenn sie illusionslos nur für Interessen geführt werden, am ehesten einzuhegen. Moral sei nur die heuchlerische Bemäntelung von Interessen oder eben schädlich in der Außenpolitik.
Aber weder als Erklärung noch als Norm ist dieser machtpolitische Realismus überzeugend. Im Westen hat er die Debatten nie so dominiert wie in Deutschland. Die US-Außenpolitik hat seit dem 18. Jahrhundert eine moralische Dimension, und die Kritik am Missionsbewußtsein der USA war immer ebendarauf gerichtet. Aber auch im Großbritannien des 19. Jahrhunderts diskutierten besonders die Liberalen, wann Interventionen aus anderen Gründen als denen purer Interessen gerechtfertigt oder sogar geboten seien.
Es charakterisiert wohl den sozusagen nichtwestlichen Charakter der preußisch-deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts – das Ohnmachtsgefühl des liberalen Bürgertums in außen- und militär-politischen Fragen –, daß solche Debatten in Deutschland nicht stattfanden, vielmehr das Wort „Realpolitik“, gesprochen mit triumphalistischem Unterton, als Fremdwort aus dem Deutschen in andere Sprachen eindrang. Spätestens mit der Gründung des Völkerbunds waren die Fragen weltweit auf der Tagesordnung, die uns heute, nach dem Ost-West-Konflikt, wieder umtreiben.
Doch jede Stellungnahme zum Verhältnis von nationaler Souveränität und universalistischer Moral sollte damit beginnen, auch die nationale Souveränität als Wert anzuerkennen. Wir müssen anderen Staaten zutrauen, sich selbst zu bestimmen und eigene Lernprozesse zu durchlaufen. Ein Verstoß gegen diesen hohen Wert ist also nur gerechtfertigt, wenn noch höhere Werte auf dem Spiel stehen.
Für die liberalen Traditionen gab es eine solche Rechtfertigung, wenn andere Mächte bereits interveniert haben sollten, wenn Versklavung abzuwehren war und wenn Massaker systematisch organisiert wurden. Die prinzipiellen Rechtfertigungsgründe sind also nicht neu. Auch die Einsicht, daß erst zivile Einwirkungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden müssen und die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt bleiben muß, ist alt. Neueren Datums ist der Gedanke, Interventionen sollten in multilateraler Einbindung stattfinden, weil dies einen stärkeren Druck auf die Überprüfung der Interventionsgründe ausübt.
Ein moralisches Recht zur Intervention führt aber nicht bruchlos zu einer Pflicht zur Intervention. Die Einschätzung der eigenen Kräfte und Interessen kommt hier unweigerlich ins Spiel. Auch die USA oder die Nato hätten nicht die Macht, gleichzeitig in mehreren Weltgegenden so zu intervenieren, wie im Kosovo interveniert wurde.
Wir leben nicht in einer Zeit, in der es nur noch eine Weltinnenpolitik gibt. Wir leben nicht in einem planetarischen Gemeinwesen, aber es gibt auch kein Zurück zur potentiell immer unfriedlichen Koexistenz der Staaten. In dieser Situation sind zwei Wege denkbar. Der eine weist, wie Jürgen Habermas am klarsten argumentiert, in Richtung einer durchgehenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Damit kommt ein Gewaltmonopol der UN ins Blickfeld – das aber zu seiner Legitimität eine fundamentale Reform der UNO voraussetzt.
Da ich nicht glauben kann, daß Rußland oder China oder die USA auf ihr Vetorecht im Sicherheitsrat verzichten werden, ist wohl ein zweiter Weg realistischer. Dieser besteht darin, alles zu unternehmen, um einen Konsens in der internationalen Staatengemeinschaft herzustellen – aber auch bereit zu sein, in seltenen Fällen ohne diesen zu handeln. Wenn die UNO auf mittlere Frist nicht reformierbar ist, dann muß diese Situation „rationalisiert“ werden. Das heißt, daß in Europa der Glaube an die Menschenrechte tiefere Wurzeln schlagen muß – und daß die USA in eine multilaterale Außenpolitik fest eingebunden werden müssen.
Ist der Kosovo-Krieg der Vorschein der Kriege des 21. Jahrhunderts? Wohl ebenfalls nicht. Eine Interventionspflicht wird es weder für die UNO noch für die Nato geben. Die innenpolitischen Schwierigkeiten der Kosovo-Intervention halten die politischen Führer des Westens wohl eher von neuen Interventionen ab. Wir sollten aus der europäischen Perspektive heraus aber auch nicht übersehen, daß Kriege zwischen Nationen (wie Indien und Pakistan), Nationenbildungskriege (wie im Gefolge der Desintegration der Sowjetunion), Kämpfe zwischen Warlords bei zerfallender Staatlichkeit (wie in Afrika) und Kriege um knapp werdende Güter (wie das Wasser) das Gesicht des 21. Jahrhunderts ebenso bestimmen werden.
Doch der Pessimismus des Verstandes kann mit einem Optimismus des Willens einhergehen. Wir kennen einige der Bedingungen stabilisierten Friedens – wie Rechtsstaatlichkeit und ökonomischen Ausgleich, interkulturelles Verständnis und zwischenstaatliche institutionelle Integration. Wenn diesem Wissen gemäß gehandelt wird, kann es gelingen, wenigstens den Balkan zu befrieden. Hans Joas
Die moralische Kriegsbegründung ist keineswegs so neu, wie manche glauben. Eine Kernfrage lautet: Wie reformfähig sind die Vereinten Nationen?
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