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Der Kampf um Arbeit

Veronika hat das Nagel-Patella-Syndrom. Seit ihrer Kindheit erlebt sie Ausgrenzung. Auch auf dem Arbeitsmarkt – obwohl sie ihre Ausbildung mit sehr guter Note abgeschlossen hat. Anders ergeht es einer Freundin von ihr

Veronika hätte als ausgebildete Kauffrau für Büromanagement wohl lieber einen vollen Schreibtisch Foto: Samantha Gades/Unsplash

Von Anne-Kathrin Oestmann

Veronika macht sehr viel auf ihre eigene Art und Weise. Sie hat gelernt, mit ihrer körperlichen Einschränkung umzugehen. Es sind die anderen, die nicht mit ihr umzugehen wissen. Stattdessen wurde Veronika als Krüppel beschimpft, ihre Fahrradreifen zerstochen, Beine gestellt. Sie wurde misshandelt. Erst in einem Internat, der rehabilitativen Einrichtung des Berufsbildungswerks in Bremen-Horn-Lehe, hörte das Mobbing auf. „Es gibt Leute, die wollen sich mit mir sehen lassen?“ Freundschaft, Akzeptanz und Teilhabe – das hatte Veronika in ihrem Leben zuvor nicht erlebt.

Die 24-Jährige hat das Nagel-Patella-Syndrom und ist in Europa der bekannteste Fall. „Es ist eine sehr seltene Krankheit, die genetisch vererbt wird.“ Ihre medizinischen Daten sind zu Forschungszwecken um den Globus gewandert, bis nach Kanada. „Ich bin ein Paradebeispiel für das, was erforscht wurde.“ Ob ein Zusammenhang zwischen ihrer psychischen Erkrankung und der körperlichen Einschränkung besteht, ist nicht klar.

Unterforderung statt Stress

In ihrem Internat wurden 34 Ausbildungen angeboten. Für Veronika kamen nur zwei davon infrage. Im Laufe der Zeit hat sie den Beruf Kauffrau für Büromanagement lieben gelernt. „Meine körperliche Einschränkung hat mich in der Ausbildung überhaupt nicht beeinflusst. Ich habe nur die Software ‚Dragon‘ gebraucht, die wie ein Diktiergerät funktioniert“, sagt sie. In der Ausbildungszeit habe es Phasen gegeben, in denen sie unterfordert war, anstatt sich wie andere mit dem Lernstoff herumschlagen zu müssen. ­Veronikas Berufsschulzeugnis trägt die Note 1,7.

Doch mit dem Ende der Ausbildung begann ihre psychische Krise. Sie hatte einen Abschluss in der Tasche, ihr Leben im Griff, Freundschaften geknüpft und trotz allem verlor Veronika den Boden unter ihren Füßen. „Die ständigen Absagen meiner Bewerbungsschreiben haben mich fertig gemacht.“ Noch bevor Veronika die Prüfungen abgelegt hat, waren 50 Bewerbungsmappen geschrieben – 30 davon kamen mit einer Absage zurück. In den Bewerbungsgesprächen fühlte sich Veronika häufig nicht ernst genommen. Oft habe nur eines für die Ar­beit­ge­be­r:in­nen im Fokus gestanden: die körperliche Behinderung von Veronika. Aber nicht Veronika selbst.

Anders als Veronika geht es einer Freundin von ihr. Marie, die eigentlich anders heißt, hat die gleiche Ausbildung abgeschlossen. Nur drei Dinge unterscheiden die beiden voneinander: Maries Note hat eine drei vor dem Komma, Marie hat keine körperliche Behinderung – und keine Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden. Für Marie ist es eindeutig: „Nur weil Veronika eine körperliche Behinderung hat, wird sie automatisch selektiert.“

Dabei sind Arbeitgeber:innen, die über mehr als 20 Arbeitsplätze verfügen, gesetzlich dazu verpflichtet, mindestens fünf Prozent der Arbeitsplätze mit Menschen, die eine körperliche Beeinträchtigung haben, zu besetzen. Gesetzliche Vorgaben und finanzielle Unterstützungen für die Betriebe sollen die Inklusion vorantreiben. Doch das System hat Schlupflöcher: Statt Menschen wie Veronika eine Chance zu geben, zahlen Betriebe lieber Geldbußen. Diese sogenannten Ausgleichsabgaben liegen zwischen 140 bis 360 Euro pro Monat und pro fehlender Ar­beit­neh­me­r:in mit Behinderung. Das sind gerade einmal acht bis 20 Prozent des durchschnittlichen Brutto-Einstiegsgehalts, das Veronika verdienen könnte. Marie ist überzeugt: „Wären die Ausgleichsabgaben höher, würde der Arbeitgeber lieber einen Menschen mit einer Behinderung einstellen.“

Arbeitslos statt beschäftigt

Das Kernproblem sei die fehlende Barrierefreiheit in den Köpfen der Arbeitgeber:innen: „Ich glaube, dass die Arbeitgeber eines Betriebes denken, dass sie bei einer Einstellung eines Menschen, der eine körperliche Behinderung hat, einen wirtschaftlichen Schaden mittragen müssen“, sagt Marie.

„Vor Kurzem hatte ich eine depressive Phase, bei der ich mit allem überfordert war“, erzählt Marie. In dieser Zeit kreuzten sich die Wege von ihr und Veronika. Sie lernten sich in einem Bremer Tageszentrum für Psychiatrie und Psychotherapie kennen. „Ich habe ja auch psychische Krankheiten, und diese schränken mich mehr ein als mein Körper“, sagt Veronika. „Wenn die das auch noch wüssten, würden die mich erst recht nicht nehmen.“

Acht Prozent mehr Menschen mit körperlicher Einschränkung sind im Vergleich zu vor der Pandemie arbeitslos. In der gängigen Statistik, laut der die Arbeitslosenquote im Land Bremen gesunken ist, kommt diese Randgruppe aber gar nicht vor. Nach Angaben des Handelsblatt Research Institute im Auftrag von Aktion Mensch fielen die Zahlen damit auf den Stand von 2016. „So wie die Lage aktuell ist, lohnt sich Hartz IV tatsächlich viel mehr“, sagt Veronika. Verglichen mit dem, was sie in Teilzeit als Berufsanfängerin verdienen würde.

Die Gesellschaft stellt ihr Beine, eines nach dem anderen. Doch die Hoffnung und den Mut lässt sie sich nicht nehmen. Statt weiterhin Bewerbungen zu schreiben, unterschätzt zu werden und Absagen zu sammeln, möchte Veronika jetzt ihr Fachabitur nachholen, um dann Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftspsychologie zu studieren. Sie wünscht sich, dass sich Ar­beit­ge­be­r:in­nen auf Menschen mit einer Behinderung einlassen: „Traut euch!“