Der Höhenflug der Grünen: Die Lichter brennen noch
Um den derzeitigen Erfolg der Grünen zu verstehen, hilft ein Blick zurück. An Konflikten wie Stuttgart 21 oder Castortransport hängen noch die Grundkonflikte der alten Bundesrepublik.
"Die westliche Welt hat eine neue Entwicklungsstufe erreicht: Die Verteidigung des kapitalistischen Systems verlangt heute die Organisierung der Konterrevolution innerhalb wie außerhalb des eigenen Bereichs. In ihren extremen Erscheinungsformen setzt diese Konterrevolution die Gräueltaten des Naziregimes fort. "
Herbert Marcuse, 1971
Mit diesen Sätzen begann Herbert Marcuse seine Schrift "Konterrevolution und Revolte" aus dem Jahre 1971. Marcuse war einer der einflussreichsten Theoretiker der außerparlamentarischen Bewegungen in Westdeutschland. Nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus war Marcuse - anders als seine ebenfalls in die USA emigrierten Kollegen Adorno und Horkheimer - nicht nach Westdeutschland zurückgekehrt. Ein Umzug nach Ostdeutschland bot sich für Marcuse nicht an.
Der westliche Marxismus und die Frankfurter Schule standen in Gegnerschaft zum antidemokratischen Sowjetsystem. Die Schriften des 1979 verstorbenen Zivilisations- und Kapitalismuskritikers beleuchten die politischen Prämissen, unter denen die Neue Linke und die sich in den 1970er Jahren allmählich formierende Partei der Grünen agierten.
Im Antifaschismus traf sich das Wissen der Emigration mit den Erfahrungen der westdeutschen Jugend in den 60er und 70er Jahren. Nach 1945 geboren und in der westdeutschen Demokratie sozialisiert, drängte die neue Generation nach größeren Beteiligungs- und Freiheitsrechten. Die heutigen Großkonflikte um Atomkraft oder Stuttgart 21 sind mit Konflikten aus dieser Zeit codiert, als eine zunehmende Zahl von Bürgern nicht mehr bereit war, die Lebens- und Vergesellschaftungsweise der älteren, autoritär geprägten Generation hinzunehmen und dabei auch mit dem Schema der Ost-West-Konfrontation brach.
Bundesländer wie Baden-Württemberg waren stark von der personalen Kontinuität der alte Funktionseliten des Nationalsozialismus nach 1945 geprägt. Der aktuelle Wirbel um Untersuchungen wie "Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik" deutet darauf, dass dies für die gesamte Bundesrepublik gilt.
2007 sagte der damalige baden-württembergische Ministerpräsidenten Günther Oettinger über seinen Amtsvorgänger Hans Filbinger: "Hans Filbinger war kein Nationalsozialist. Im Gegenteil: Er war ein Gegner des NS-Regimes. Allerdings konnte er sich den Zwängen des Regimes ebenso wenig entziehen wie Millionen andere." Oettinger, Jahrgang 1953, wusste es eigentlich längst besser.
Filbinger war ein Nationalsozialist, der zum christlichen Demokraten mutierte, ohne Reue für seine Taten. Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein - so lautete ein berüchtigtes Diktum Filbingers. In seine Amtszeit als Ministerpräsident fällt auch ab 1973 der Streit über das geplante AKW im badischen Wyhl. 1975 eskalierten die Auseinandersetzungen, sie markierten den Beginn der westdeutschen Anti-AKW-Bewegung.
Ohne AKW Wyhl würden in Baden-Württemberg die Lichter ausgehen, sagte Filbinger 1975. Das Land würde "unregierbar", so sich "bei jedem größeren Projekt irgendwelche ideologischen oder anderen Interessenten sich mit mittelbarer oder unmittelbarer Gewalt widersetzten".
Das AKW Wyhl wurde nie fertiggestellt, in Baden-Württemberg blieben die Lichter an. Doch die Südwest-CDU, heute angeführt von Stefan Mappus, hat die früheren Konflikte und deren Geschichte nie reflektiert. Bedrängt von Bürgerprotesten gegen Stuttgart 21 und schlechten Umfragewerten, klingt Ministerpräsident Mappus wie Filbinger vor 35 Jahren.
Einer konservativen Sonntagszeitung diktierte er letztes Wochenende: "Tatsache ist doch, dass die Grünen Narrenfreiheit haben, dass sie die Straße mobilisieren, weil sie in den Parlamenten keine Mehrheiten haben. Wo immer es Ärger gibt, sammeln sie den ein, indem sie jegliche Überzeugungen über Bord werfen und einfach dagegen sind. Wenn es irgendwo eine Initiative gegen einen Radweg geben sollte, werden sie sich auch da noch an die Spitze der Bewegung setzen. Einfach gegen alles."
Über Filbinger, Späth, Teufel und Oettinger hinweg reichte es für die CDU stets zur Regierungsmehrheit im Südwesten. Mit den Wahlen im kommenden Frühjahr dürfte die CDU ihre Mehrheit erstmals seit 1953 an starke Grüne und weniger starke Sozialdemokraten verlieren. Eine Revolution im Ländle.
2006 wurde im Bonner Regierungsviertel ein Teilstück der Franz-Josef-Strauß-Allee in Petra-Kelly-Allee umbenannt. Kelly war 1979 Gründungsmitglied der Grünen und zuvor aus der SPD ausgetreten. Das Paar Petra Kelly und Gert Bastian repräsentierte bis zum Tod 1992 das ambivalente, das bürgerlich-konservative Gesicht der grünen Bewegung.
Petra Kelly konnte - im Sinne Marcuses - neben dem Umweltschutz und der Abrüstung für "eine neue Form der politischen Vertretung" plädieren, einer, in der auch "der Grundsatz von der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen echt praktiziert" werden sollte. Neben solch kulturrevolutionären Thesen konnte sie aber auch genauso für den Schutz des ungeborenen Lebens eintreten, dabei konservative Gedanken unter die Grünen mischen.
Ideologische Uneindeutigkeiten haben Linke oft genervt, dürften aber die Grünen insgesamt und antiautoritär gestärkt haben. Die Grünen traten aus den festgefügten Formationen des Kalten Kriegs - hier sozialistische Arbeiterpartei, dort christlich-konservativer Block - heraus. Mehrheitlich verabschiedete sich die Partei von der abstrakten Systemopposition und vulgären Klassenkampfrhetorik der 70er Jahre.
Die frühe Ausrichtung an menschenrechtlicher Politik, selbsttätigem Handeln und einer nachhaltigen Ökonomie kommt den oft Belächelten nun zugute. Den Rest erledigt die Globalisierung. Die Wählermobilisierung über eine große einheitliche Industriearbeitswelterzählung (SPD) hat ebenso wie die Anrufung einer nationalistisch-autoritären Gemeinschaftsvorstellung (CDU) akute Schrumpfung zur Folge.
Der hessische Grünen-Vorsitzende Tarek Al-Wazir nennt den derzeitigen Höhenflug der Grünen "eine Kombination aus Schwäche der Regierung und eigener Stärke". Die Schwäche könnte sein, dass heute jegliches Regieren in der Mediendemokratie populistisch abgestraft wird. Die Stärke, dass fast alle alten 68er-Forderungen nach selbstbestimmtem Arbeiten und Leben, Geschlechtergerechtigkeit oder Umweltschutz weit über die Grünen hinaus Mainstream geworden sind.
Mappus und Merkel müssten nicht einmal Marcuse, Thoreau oder Petra Kelly lesen, um dies zu verstehen. Es genügt, fernsehzugucken. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Martin Lindner stritt bei Anne Will mit dem Grünen Hans-Christian Ströbele über die Castortransporte. Der junge Lindner wirkte wie der Dinosaurier, der alte Ströbele unangefochten als dynamischer Modernisierer.
Die heutigen Bewegungen müssen sich nicht mehr antikapitalistisch oder proletkultisch gerieren, um cool oder Avantgarde zu sein. Sie haben sich von 1945 und den postnazistischen Auseinandersetzungen - wie sie Herbert Marcuse noch beschrieben hat - emanzipiert. Diese hatten jahrzehntelang die Politik in der alten BRD bestimmt. Zwanzig Jahre nach der deutschen Einheit geht das nun seinem verdienten Ende zu.
Leser*innenkommentare
Paria
Gast
Der Höhenflug der Grünen hat doch nur damit zu tun, dass sie seit Rot-Grün alle Überzeugungen über Bord geworfen und sich allem schön brav opportunistisch angepasst haben.
So haben sie dem Wahlvolk gezeigt: Ihr könnt uns ruhig wählen, wir sind nämlich auch nicht anders als SPD, CDU oder FDP.
jan
Gast
...Der hessische Grünen-Vorsitzende Tarek Al-Wazir nennt den derzeitigen Höhenflug der Grünen "eine Kombination aus Schwäche der Regierung und eigener Stärke"....
Nein, es ist eine Art selektive Wählerdemenz. Es erinnert sich scheinbar keiner mehr daran, dass die Grünen Hartz4, Afghanistan und die Deregulierung der Finanzbranche verbockt haben. Dafür überlebt hat im kollektiven Gedächtnis das Dosenpfand, der Atomausstieg und die Förderung der Solarenergie.
Darum haben sie ihren Höhenflug im Grunde redlich verdient, denn ohne diese urgrünen Projekte hätte Rot-Grün ausschließlich ein soziales Desaster, einen hässlichen Vasallenkrieg und vulgäre Zustände wie im Steizeitkapitalismus hinterlassen.
Oder anders gesagt: ohne die Grünen hätte es gar keinen Unterschied zwischen Schwarz-Gelb und Rotgrün gegeben.
reblek
Gast
"2007 sagte der damalige baden-württembergische Ministerpräsidenten Günther Oettinger..." Majestät bekommen einen Plural!
"Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein..." Nicht "rechtens", sondern "Recht".
ramba
Gast
Huch, der Beitrag müsste jedem Grünen wie Balsam....
Ich hab den Verdacht, der Autor wählt grün^^, der kommt vom Schwärmen gar nicht mehr heraus
hto
Gast
Die heutigen "Bewegungen" sind zeitgeistlich-reformistisch zum Imperialismus der Hierarchie von materialistischer "Absicherung" im geistigen Stillstand seit der "Vertreibung aus dem Paradies". "Emanzipiert", weil nun im "gesunden" Konkurrenzdenken des jetzt "freiheitlichen" Wettbewerbs um / für "Wer soll das bezahlen?" und "Arbeit macht frei" - ich sehe nur eine ignorant-arrogante Avantgarde der gutbürgerlich-gebildeten Suppenkaspermentalität auf systemrationaler Sündenbocksuche, in GLEICHERMAßEN unverarbeiteter / MANIPULIERBARER Bewußtseinsschwäche in Angst, Gewalt und "Individualbewußtsein", KONFUSIONIERT durch / für die Überproduktion von bewußtseinsbetäubendem Kommunikationsmüll und in blöd-, stumpf- wie wahnsinniger Hoffnung zu Kapitalismus-light!
Und ein Ende des Erfolgs der gepflegten Dummheit der Menschheit ist nicht absehbar!?
audio001
Gast
Die Grünen überziehen wieder einmal und der Steigflug könnte in ein unbeabsichtigtes Flachtrudeln übergehen!
Und da sind wir dann wieder beim alten Problem der Grünen: Sie können zwar themenbezogen für oder gegen etwas sein, aber sie sind ohne politisches Konzept für eine tragfähige und zukunftsorientierte Politik für dieses Land. Sie können mit der Chance, die ihnen schwarz/gelb durch ihre politische Unfähigkeit vor die Füße legt, nichts anfangen.- Die Grünen sind (noch?) nicht die politische Alternative die dieses Land dringend braucht!
Und ich befürchte sie werden das auch absehbar nicht mehr werden: Weil sich "die alten grünen Kämpen" wie Roth, Trittin, Künast & Co bereits komfortabel in Mandaten und Ämtern eingerichtet haben und es offenkundig immer weniger um die "richtige Politik" für dieses Land geht, sondern um die "richtigen Pöstchen"!
Die Grünen sind inzwischen dort angekommen wo andere "etablierte Parteien" längst sind: "Willkommen in der Welt der "interessensgeprägten Seilschaften" und "Karrierekartelle"!"
Neo
Gast
Artikel 5 und Artikel 8 Grundgesetz
Zitat:Einer konservativen Sonntagszeitung diktierte er letztes Wochenende: "Tatsache ist doch, dass die Grünen Narrenfreiheit haben, dass sie die Straße mobilisieren, weil sie in den Parlamenten keine Mehrheiten haben.
jaja
Gast
Aber das waren damals doch noch die coolen alten Dithfurt-Grünen, und nicht die glattgebülten Realos von heute, die dann in der Versicherungs- oder Schokoriegelindustrie landen, wenn sie nicht oft genug "Nachhaltigkeit" gesagt haben. Das war Rotationsprinzip, und linke Politik, nicht "schwarzgrün". Das ist ja das eklige, dass sie jetzt wieder ankommen, und 1985 simulieren, und sich gleichzeitig die Hintertüren für alles offen halten, und nicht mal ne Ansage machen können wie: "Wir gehen in keine Regierung, die Stuttgart 21 baut", oder "Es ist richtig, dass wir Castorproteste nicht gut fanden, als diese damals unter unserer Verantwortung stattfanden".
Bernd Egger
Gast
Würde ich nicht sagen, dass wir heute nicht mehr antikapitalistisch sein müssen. Reiner und fokussierter Antikapitalismus haben sich wahrscheinlich überholt, er ist zu eng. Aber kapitalismuskritisch und patriarchatskritisch zu sein, also den Weg aus Kapitalismus und Patriarchat heraus zu finden,ist immer noch ein Gebot der Zeit und ganz aktuell. Wobei ich einen erweiterten Begriff vom Patriarchat habe, siehe hierzu auch die Ergebnisse der modernen Matriarchatsforschung und der daran angeschlossenen modernen Patriarchatskritik.
vic
Gast
Wohl wahr; wir hatten und haben hier in Baden-Württemberg immer üble Typen an der Macht. Es wäre zu schön, wenn das 2011 ein Ende hätte.
Kann ich mir noch gar nicht vorstellen.