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Der HausbesuchEine fragile Gemeinschaft

Mathilde Irrmann hat einen kleinen Sohn und einen Job ohne feste Arbeitszeiten. Das wäre unvereinbar, würde Irene Weiß nicht helfen. Wie lange noch?

Gemeinsam sind sie stark: Irene Weiß und Mathilde Irrmann Foto: Wolfgang Borrs

Nicht alle Arbeits- und Lebensmodelle passen perfekt zu den Bedürfnissen eines 7-Jährigen. Mathilde Irrmann bekommt deswegen bei der Betreuung ihres Sohns Anatol Unterstützung. Diese ist nun gefährdet.

Draußen: Die Baumkronen im Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg leuchten in Herbstfarben. Am Ende der angrenzenden Straße – efeubewachsene Altbauten, Gaslaternen, mit Herbstblättern tapezierte Bürgersteige – wohnt Mathilde Irrmann mit ihrem Sohn Anatol. Drei bunt lackierte Enten, Citroën 2CVs, parken vor der Tür, rot, grün und weiß. Gleich nebenan gibt es eine auf Enten spezialisierte Autowerkstatt. Es regnet.

Drinnen: Der Regen kommt bei Mathilde Irrmann gedämpft an, übertönt von einem französischen Sender, der im Radio läuft. Die 32-jährige Filmemacherin und Schauspielerin aus Straßburg lebt seit 13 Jahren in Berlin. Schlicht eingerichtet ist die kleine Ein-Zimmer-Wohnung, in die sie vor 5 Jahren zog. Ein Tisch, eine Couch, eine Kommode – auf einer Seite mit Büchern abgestützt –, auf der zwei Kerzen brennen. In einer Ecke ihr Bett und darüber ein selbst gezimmerter Alkoven für ihren Sohn Anatol. Über einem Schaukelstuhl hängt ein großes Gemälde. Das sei ein Original von Anatol, der die Hälfte der Zeit bei ihr, die andere Hälfte bei seinem Vater wohnt. Das Sofa steht vor einer Backsteinwand, farblich ist alles aufeinander abgestimmt – viel Weiß, Blau, Lila, ein wenig Weinrot. Auch Mathilde Irrmann und Irene Weiß sind farblich passend gekleidet und lachen über den Zufall.

Die Vermittler: 40 Jahre älter ist Weiß, in Franken geboren und seit Ende der 1970er Jahre Wahlberlinerin. Auch sie wohnt in Kreuzberg. Wenn Mathilde Irrmann beruflich unterwegs ist, passt Irene Weiß auf Anatol auf. Das ist oft abends, am Wochenende oder auch mal eine Woche lang. Die Bezahlung für Weiß übernimmt das Jugendamt. Doch ohne die Vermittlung des Berliner Projekts „MoKiS“ hätten sich die Frauen nie kennengelernt. Jetzt steht diese Initiative, die vom Jugendamt finanzierte Kinderbetreuung außerhalb regulärer Kita- und Schulzeiten vermittelt und Eltern sowie Betreuungspersonen berät und vernetzt, kurz vor dem Aus. Ab 2026 soll MoKiS, von dem derzeit rund 400 Familien profitieren, nicht mehr finanziert werden. Ob und wie das die Zusammenarbeit von Irene Weiß, Mathilde Irrmann und Anatol beeinflussen wird – sie wissen es selber nicht genau.

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Kennenlernen: Die zwei Frauen erinnern sich noch daran, was Anatol zu Irene Weiß sagte, als sie sich kennenlernten. „Du bist zu alt.“ Woraufhin Weiß antwortete: „Damit müssen wir uns beide abfinden“. „Er hat dich unglaublich gerne“, sagt Irrmann. „Das hat er mir auch gesagt“, meint Weiß. Seit einem Jahr fühlt sich die Wohnung in der vierten Etage auch für sie ein bisschen wie zu Hause an. Denn sie kommt regelmäßig hierher, um auf Anatol aufzupassen. Sie sei seine „Betreuungsperson“, wie sie es sagen.

Draußen: Den Garten mit Sitzecke hinterm Haus hat Mathilde Irrmann gestaltet Foto: Wolfgang Borrs

Pech gehabt: Betreuungspersonen sind oft „ältere“ Frauen, häufig im Ruhestand. So beobachtet es Irene Weiß bei den Vernetzungstreffen von MoKis, und so kennt sie es auch aus ihrer früheren Beschäftigung. „Ich weiß, wie schwer es ist, Arbeit und Familie zu vereinbaren. Vor allem für Frauen.“ Mehr als 30 Jahre hat sie in der Betreuung von Menschen mit Behinderung gearbeitet und als Leitung auch den Schichtplan organisiert. Damals, erinnert sie sich, war es so: Wenn du als Frau mit Kind keine Familie oder enge Freun­d*in­nen hattest, die dir helfen konnten, „dann hattest du Pech“. Fehlende Kinderbetreuung sei auf den Schultern der Mütter abgeladen worden.

Spaß oder Kinder? Diese Mentalität gehöre noch nicht der Vergangenheit an. „Du bist doch Mutter, hör schon auf mit dem Spaß“, habe sich Mathilde Irrmann kürzlich anhören müssen. Mit Spaß ist ihre Arbeit in der Filmindustrie gemeint. Auch ihr Ex-Mann, Anatols Vater, arbeite in der Filmbranche und hat ebenfalls unregelmäßige, oft ungewöhnliche Arbeitszeiten. „Aber Vätern sagt man so was nicht.“ Doch egal, was andere meinen: Irrmann ist sich sicher – wenn sie glücklich ist, ist es Anatol auch. „Er sagt: ‚Mein Vater macht coole Sachen, meine Mutter übrigens auch.‘“

Perspektivwechsel: Nachdem sie als Schauspielerin am Theater in Straßburg gearbeitet hatte, kam Mathilde Irrmann mit 19 Jahren nach Berlin. Sie suchte einen Perspektivwechsel, studierte Kunst- und Kulturwissenschaften und begann, sich für die Technik hinter der Kamera zu interessieren. „Ich wollte nicht mehr in der passiven Rolle sein.“ Also fing sie an, als Assistentin und als Standfotografin zu arbeiten, machte Bildregie, etwa bei Pressekonferenzen der Berlinale, und führte schließlich auch Regie.

Jonglieren: Neben ihren eigenen Projekten moderiert Irrmann Filmfestivals oder übernimmt Kamerajobs. Und arbeitet einige Stunden in einem Unverpackt-Supermarkt. Sie sei es gewohnt, „viele Bälle in der Luft zu halten“, um zu überleben. In der Filmbranche seien Jobangebote oft kurzfristig und spontan. „Wenn du einmal Nein sagst, rufen sie dich vermutlich nicht wieder an“, sagt Weiß. Irrmann nickt. „Es gibt Phasen, in denen du zu viel zu tun hast, und Monate, in denen gar nichts läuft“, sagt sie. Für selbstständige Künstler und Künstlerinnen sei es schwer, aus dieser Prekarität herauszukommen.

Überzeugungen: Und dazu gäbe es auch die „Nicht-Brotjobs“, die Mathilde Irrmann aus Überzeugung macht. Sie ist Klimaaktivistin und setzte sich drei Jahre lang für die Aktivist*innen-Gruppe Letzte Generation ein, etwa in der Presse-AG oder vor Gericht. Aktuell organisiert sie Veranstaltungen in einem Upcycling-Laden. „Mir geht es um Dialog, darum, dass Menschen ihre Bubbles verlassen und Lust bekommen, sich für die Umwelt zu engagieren.“

Sinn: Auch Irene Weiß suchte nach einer Veränderung. 2018 ging sie in Rente und genoss es, Zeit für sich zu haben. Doch spätestens mit der Coronapandemie wurde ihr der Alltag „etwas eintönig“, und sie suchte nach etwas Sinnvollem.

Verreisen? Kam nicht in Frage. „Ich hatte schon genug in meinem Leben gesehen und Massentourismus macht mich müde“, sagt Weiß. Lieber einen Job finden, dachte sie. „Ich wollte etwas machen, ohne viel umlernen zu müssen.“ Zunächst versuchte sie es über eine Plattform, die Rent­ne­r*in­nen für einfache Jobs vermittelt und bekam eine Stelle in einer Kita. Aber große Kindergruppen zu managen, fiel ihr schwer und sie stieg wieder aus. In der U-Bahn sah sie dann eine Anzeige von MoKiS und bewarb sich. Als sie hörte, dass Anatol kein Kleinkind ist, war sie erleichtert. „So muss ich ihn nicht die Treppe hochschleppen und so können wir uns besser verstehen.“

Drinnen: Unten schläft Mathilde Irrmann, oben im Alkoven kann Anatol sich zurückziehen Foto: Wolfgang Borrs

Screentime: Am ersten Abend sagte Mathilde Irrmann zu Irene Weiß: „Kein iPhone, bitte.“ Auch über welche Filme und wie oft Anatol sich etwas anschauen darf, müssen sie sich abstimmen. „Deshalb musste Anatol mit mir ‚Mensch ärgere Dich nicht‘ spielen“, erzählt Weiß, und sagt dann: „Er weiß, dass ich kein Ersatz für seine Eltern bin.“ Neulich meinte er zu ihr: „Wir sehen uns jetzt weniger, weil meine Eltern nicht viel zu tun haben.“ Und er fragte weiter: „Wann sehen wir uns wieder? Weißt du das schon?“ „Weißt du es?“, fragen sich Weiß und Anatol gegenseitig. „Wir sind beide von den Eltern abhängig“, sagt sie.

Kein Luxus: Für Mathilde Irrmann sei Kinderbetreuung keine „cherry on top“, kein Luxus. Bevor Irene Weiß in ihrem Familienleben auftauchte, hatten sie ein Jahr lang keine Betreuungsperson. „Das war extrem stressig“, sagt sie. „Wir mussten ständig entscheiden: Wer darf arbeiten, wer braucht das Geld gerade mehr, der Vater oder ich? Das waren doofe Zeiten, keine schöne Situation“. Und jetzt soll es vielleicht wieder so werden?

Mentale Gesundheit: Durch das Betreuungsprogramm sei so vieles leichter, sagt Irrmann. „Ich habe das Glück, Irene zu haben, aber ich denke immer daran, dass so viele Familien diese Möglichkeit nicht einmal kennen.“ Das finde sie unfair. „Eine verlässliche Betreuung ist wichtig für die mentale Gesundheit der Eltern und damit auch der Kinder“, sagt Irrmann. „Sind die Eltern überstrapaziert, leidet das Kind automatisch.“

Hoffnung: Der Mangel an kostenlosen Kinderbetreuungsangeboten trifft vor allem Allein- oder Getrennterziehende wie Mathilde Irrmann. Sie hofft, dass die Betreuung weiterläuft und dass auch andere Familien das Angebot von Initiativen wie MoKiS nutzen können. Irene Weiß fügt hinzu: Wenn man die Vermittlungsstelle jetzt wegkürzt und sagt: „Die Jugendämter können das selbst machen“, dann werde das nichts. „Die Jugendämter sind bereits heute unterfinanziert und überlastet, wie wollen sie da MoKiS ersetzen?“ Das alles ziele doch darauf, dass das Angebot weniger genutzt werde, so spare der Senat dann hintenrum Geld, das sei die perfide Strategie. „Wer Frauen mit Kindern aber ernst nimmt, muss gesellschaftliche Verantwortung für sie mittragen“, sagt Weiß. „Es muss ein Recht auf Kinderbetreuung geben.“

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