Der Hausbesuch: Gottesdienst für Spätaufsteher
Die jungen Pastoren Max Bode und Chris Schlicht haben ihre erste Gemeinde in Bremerhaven: Sie gendern, predigen in Jeans und fahren Skateboard.
Sie sind Freunde, sie teilen den Musikgeschmack und den Blick auf die Welt. Und seit knapp zwei Jahren teilen sie sich sogar eine evangelische Pastorenstelle.
Draußen: Triste Mehrfamilienhäuser in Plattenbauoptik dominieren das Straßenbild in Bremerhavens Ortsteil Grünhöfe. Dazwischen dann und wann ein Dönerladen, ein paar Discounter. Nirgendwo sonst in der Stadt sind die Mieten so günstig. Die Arbeitslosigkeit und die Kinderarmut hier sind hoch, viele Menschen haben einen Migrationshintergrund. Das Viertel hat einen schlechten Ruf. Zu Unrecht, sagen Max Bode und Chris Schlicht.
Drinnen: An der Wand im Flur des Pfarrhauses hängen Skateboards. „Das sind unsere Dienstfahrzeuge“, sagt Schlicht. Die Möbel in ihrem Büro haben sich die beiden in der Gemeinde zusammengesucht, alles Zeug, das irgendwo rumstand. An dem großen Holztisch arbeiten sie meistens gemeinsam. Max Bodes Haare sind grün, das wechselt regelmäßig. Chris Schlicht hat ein großes Tattoo auf dem Arm, trägt ein umgedrehtes Baseball-Cap. Die beiden sind 33 und 30 Jahre alt und teilen sich eine Stelle. In der Emmaus-Gemeinde stellen sie das erste Teampfarramt der Landeskirche Hannover. Jeder von ihnen hat eine Woche im Monat frei. Schlicht wohnt im Pfarrhaus, Bode nur ein paar Meter weiter in einem der grauen Wohnblocks.
Anders: Kennengelernt haben sie sich am Ende ihres Theologiestudiums in Göttingen. Gemeinsam rasselten sie durchs Examen, gemeinsam schafften sie es beim zweiten Anlauf. Das schweißte die Freunde noch enger zusammen. Für beide stand nach dem Vikariat fest: Kein Talar, kein Business as usual, sie wollen etwas verändern, am liebsten zu zweit. „Wer wird die neue Welt bau’n, wenn nicht du und ich“, zitiert Bode Rio Reiser. Das Konzept hat es so noch nicht gegeben, aber die Evangelische Landeskirche gibt ihr Go. Die Berufsanfänger wünschen sich eine Gemeinde, in der es Probleme gibt, in der länger niemand mehr war. Auch das klappt.
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Empathie: Der Vater von Chris Schlicht ist Pastor, die Mutter Krankenschwester. Die Familie zieht oft um. „In der Schule war ich Außenseiter; zu Hause war mein Safe Space.“ Als Kind weint er viel. Das gehöre sich nicht für einen Jungen, hört er immer wieder. Er ärgert sich über seine Sensibilität, will ein anderer sein. Heute empfindet er seine Empathie als großes Geschenk. „Durch den Beruf meines Vaters war Gott natürlich irgendwie immer präsent in unserer Familie. Trotzdem hat er in meinem Leben lange keine Rolle gespielt.“ Bis Schlicht mit 18 an einem Rock-Gottesdienst teilnimmt. Man muss dem Gott nicht danke sagen, du kannst ihm auch vor die Füße kotzen, heißt es dort in der Predigt. „Das habe ich dann auch gemacht. Und es hat mein Leben verändert. Irgendwie habe ich da verstanden, dass ich genau richtig bin, so wie ich bin.“
Liebeskummer: Irgendwann sei es dann cool geworden, gefühlvoll zu sein. „Plötzlich standen sogar Mädchen auf mich.“ Doch auch eine unglückliche Liebe bleibt nicht aus. Während des Zivildienstes verliert Chris Schlicht sein Herz an eine Kollegin, unerwidert. „Oh Gott, habe ich damals gelitten, ich habe wirklich nichts ausgelassen, Gedichte schreiben, dramatische Musik, Rotwein.“ Als seine Angebetete Sonderpädagogik studiert, will er das auch, scheitert aber am Numerus clausus. „In der Kneipe hat mich ein Kumpel damals gefragt, warum ich eigentlich nicht Pastor werde.“
Schmerz: Als sich sein Studium dem Ende zuneigt, stirbt Chris Schlichts Mutter mit Anfang 50, aus heiterem Himmel. Ihr Tod wirft ihn aus der Bahn. „Wir hatten ein sehr enges Verhältnis, sie war mein Vorbild.“ Von Gott will er in den Monaten danach nichts hören.
Zuhören: Bei Maximilian Bode lief es anders. Auch er wächst in einer gläubigen Familie auf, seine Eltern unterrichten beide Religion an Schulen. Anders als sein Kollege findet er seinen Zugang zu Gott schon früh. „In den existenziellen Krisen, die man als Kind so hat, zum Beispiel dem Tod der Oma, hat mir das wahnsinnig geholfen.“ Eigentlich will er Künstler werden. Doch als es von den Kunsthochschulen nur Absagen hagelt, begräbt er den Traum und kümmert sich um eine Alternative. Er sei der Typ, neben den sich im Bus oder auf Partys fremde Leute setzten, um ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen, sagt Bode: „Und ich finde das spannend.“ Warum nicht das zum Beruf machen? Während des Studiums hat er jedes Jahr einen anderen Plan für die Zukunft. Wirklich Pastor zu werden ist nie dabei.
Glauben: „Gott hilft mir jeden Tag, kein zynisches Arschloch zu sein“, sagt Max Bode heute über sein Verhältnis zu Gott. Vieles am ganzen System sei scheiße, ohne Zweifel. Aber durch seinen Glauben habe er den Antrieb, es ändern zu wollen. „Vielleicht würde ich sonst als Zecke auf Brücken sitzen und pöbeln.“ Das habe er früher manchmal gemacht. Dem Punk fühlt er sich immer noch nah. „Aber klar, mit einem Beamtengehalt passt das natürlich nicht mehr so.“
Neustart: Eine Hand geschüttelt haben Bode und Schlicht in ihrer Gemeinde noch nie. Im Sommer 2020, mitten in der Pandemie, geht es für sie nach Bremerhaven. Ihre ersten Amtshandlungen: Der Gottesdienst am Sonntag wird von 10 auf 17 Uhr verschoben und die Kirchenglocke, die jeden Morgen um 8 Uhr schepperte, wird abgestellt. „Das kam gut an, viele Leute in Grünhöfe arbeiten im Schichtdienst, das hat die jeden Tag aus dem Schlaf gerissen.“ Auch die Orgel hat ausgesorgt.
#Zuhausekirche: Willkommen zuhause!, damit wirbt die Emmaus-Gemeinde. An der Kirche hängt ein großes Banner mit dem Hashtag. In der Kirche stehen Sofas, es gibt eine Spielecke. Die beiden Pastoren predigen so, wie sie sind, nicht im Talar. Einerseits, weil sie sich nicht verstellen wollen, andererseits, um die Hemmschwelle, in die Kirche zu kommen, zu verringern. „Wir wollen den Leuten sagen: Wenn wir hier so sein können, wie wir sind, dann könnt ihr das auch“, sagt Chris Schlicht. Viele Menschen im Viertel seien gesellschaftlich isoliert und fühlten sich nicht akzeptiert – in der Emmaus-Gemeinde sollen sie sich zu Hause fühlen.
Scheiße: In ihren Gottesdiensten thematisieren die jungen Pfarrer vor allem Alltagsprobleme. Oft fällt das Wort „Scheiße“. Der Fokus: Seelsorge. „Jeder hat die Sehnsucht, sich angenommen zu fühlen. Da ist es doch Mist, wenn sich Leute auf den Weg in die Kirche machen, nichts verstehen und wieder enttäuscht werden.“ Niemand sei schlechter oder besser, weil er Arzt ist oder Hartz IV bekommt, das sei ihre Botschaft. Ihr Konzept kommt an, die Besucherzahl steigt. Die aber, die sich nicht an das Neue gewöhnen können, wurden an andere Gemeinden vermittelt.
Nachbar: Weil Max Bode in einem der grauen Wohnblocks von Grünhöfe wohnt, ist er am Geschehen in der Nachbarschaft ein bisschen näher dran als Chris Schlicht – obwohl es auch im Pfarrhaus oft genug klingelt. „Mich trifft man noch auf einer anderen Ebene. In erster Linie bin ich Nachbar, dann Pastor“, erklärt Bode. Die Gespräche über die Balkone hinweg will er nicht missen. „Für mich sind das nicht mehr viele identisch aussehende graue Häuser. Ich denke, in jedem dieser Häuser stecken spannende Geschichten. Einmal klingelte ein Junge aus dem Haus und fragte, warum es in der Bibel keine Dinos gibt. Warum er keine Angst vor Überfremdung habe, will ein anderer Nachbar von Bode wissen. „Das sind genau die Gespräche, auf die ich Bock habe und für die ich mir Zeit nehme.“
Social Media: Bode und Schlicht posten fast jeden Tag aus ihrem Leben, auch um zu zeigen, dass sie immer ansprechbar sind. Die #Zuhausekirche gibt es auch als App. Schlicht bekommt sogar ein Viertel seines Gehalts dafür, auf seinem eigenen Kanal @wynschkind Insta-Pastor zu sein. „Manchen Menschen fällt es leichter, im Chat über ihre Probleme zu sprechen statt von Angesicht zu Angesicht. Daran ist nichts cringe, jeder Mensch hat einen anderen Kanal, auf dem er sich öffnen kann.“ Alle Gottesdienste gibt es auch im Livestream, dort ist inzwischen mehr los als in der Kirche.
Träume: Dass eines der größten Hobbys seines Lebens zu seinem Beruf geworden sei, könne er manchmal immer noch nicht fassen, sagt Maximilian Bode. Trotzdem, eigentlich hatten sie sich das alles anders vorgestellt. „Ich wollte ein Kneipenpastor sein, Grillen, große Sommerfeste, ein Techno-Gottesdienst, wir haben so viele Pläne. Da hat Corona uns bislang einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber die Zeit, um noch mehr Neues auszuprobieren, wird sicher noch kommen.“
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