Der Hausbesuch: Hermes, Buddha, Casanova
Familie Müller-Lentrodt liest viel – und verreist gern. Am liebsten nachhaltig, langsam, ohne Flugzeug. Denn: Reisen und Lesen inspiriert den Geist.
Die Berliner Familie Müller-Lentrodt reist nicht nur durch die Welt, sondern auch in die Literatur.
Draußen: Das Schloss Bellevue in Berlin ist von hier aus gut zu Fuß zu erreichen. Der Altbau, in dessen Dachgeschoss die vierköpfige Familie wohnt, steht der Residenz des Bundespräsidenten in kaum etwas nach: Marmortreppen mit verzierten schwarzen Metallgeländern, geschnitzte Holztüren und ein Balkonblick auf die Siegessäule.
Drinnen: Vom Durchgangszimmer in das Wohnzimmer braucht man eine Weile. Man glaubt in einer Bibliothek zu sein, die von einem Erdbeben heimgesucht wurde. Übereinander gestapelte Bücher auf den Tischen, unter den Tischen, in den Schränken, auf den Schränken, und Büchertürme auch auf dem Boden – über Dante, Chagall, Charles Aznavour. Wo keine Bücher liegen, stehen Buddha-Statuen. An den Wänden hängen Bilder und Postkarten mit Straßenszenen aus verschiedenen Teilen der Welt. In einer Ecke steht eine riesige Harfe. Ein Erbstück, niemand spielt auf ihr.
Hermes: Auf einem Bücherschrank steht eine Figur des Hermes. Der griechische Gott gilt als der Beschützer der Reisenden. Hermes soll auch die Familie auf ihren Reisen schützen. Denn die ist gern unterwegs.
Fernweh: Matthias Müller-Lentrodt sagt: „Ich habe ein nomadisches Leben geführt“. Er ist Studienreiseleiter, Stadtführer und der Vater in der Familie. 1964 im Bergischen Land in Nordrhein-Westfalen geboren, hat er in Heidelberg Theologie und Philosophie sowie in München und Wien Germanistik und Theaterwissenschaft studiert. Dazu hat er noch eine Schauspiel- und Gesangsausbildung gemacht. Vor allem aber ist er gereist – von Amerika bis Asien. Und er schreibt Lyrik und Reise-Essays. In der Coronapandemie, als Reisen nicht möglich war, verfasste er den Reise-Essay-Band: „Die geflügelte Ferse“. Darin begibt er sich auf die Spuren von Dichtern und erkundet ihre Sprachwelt.
Reisen: Auch das Thema Nachhaltigkeit beschäftigt ihn. Doch Verzicht sei schwierig beim Reisen, findet Müller-Lentrodt. Es gänzlich aufzugeben, hält er aber auch für den falschen Weg. „Das Reisen gehört zu unserer menschlichen Natur“, sagt er. Und seine Frau Zara Safaryan-Müller beteuert: „Unsere Reisen sind wenig konsumorientiert – keine Party, kein Strand, kein Shopping.“ Häufig gingen sie in Museen, suchten den kulturellen Austausch.
Die Welt retten: Jährlich spendet die Familie mehrere hundert Euro an Greenpeace. Auch andere Projekte unterstützen sie. Für ein gutes Gewissen, damit sie weiter reisen können? „Nein“. Um das schlechte Gewissen zu beruhigen? „Nein.“ Sie täten das „aus der festen Überzeugung, dass der Mensch die Pflicht hat, den Planeten zu retten“, erklären sie unisono.
Die Augen aufmachen:
Bei ihren Reisen vermeiden sie es zu fliegen und nähern sich ihren Zielen langsam. Sie sind überzeugt: Reisen inspiriert den Geist. Neue Sprachen zu erlernen, bringe sie den Menschen der unterschiedlichen Länder näher. „Wenn die Deutschen mehr reisen würden, würden sie sich auch mehr öffnen“, sagen sie.
Casanova: Auf seinem Weg von Nord nach Süd und durch den Orient lernte Matthias Müller-Lentrodt immer wieder Frauen kennen. Es dauerte nie lange, und eine Frau verliebte sich in ihn, sagt er. Oft half er mit französischer Lyrik nach, das sei gut angekommen. „Es gab kürzere Geschichten mit Frauen, die ich auf Reisen kennenlernte. Und es gab auch Beziehungen, die ein oder zwei Jahren dauerten“, erzählt er.
Anmut und ewig Weibliches: „Mich hat die sinnliche Schönheit gereizt, wie Frauen sich bewegen, sprechen, aber auch diese Anmut und das ewig Weibliche“, sagt er. „Ich habe nicht nur die schönen Frauen gesucht, sondern auch die klugen. Auch die Frauen, die Sensibilität für Poesie haben“. An den Bücherregalen hängen Fotos von Frauen, denen er begegnete und Frauen, von denen er träumte, wie die Schauspielerinnen Fanny Ardant und Claudia Cardinale.
Als die Liebe einschlug: Und wann hat er dieses Vagabundieren und Erobern beendet? „Als eine Armenierin mit lockigen Haaren in sein Leben trat“, antwortet seine Frau Zara Safaryan-Müller. Auch sie habe sich Hals über Kopf in diesen „Casanova“ verliebt. Über die Mutter von Safaryan-Müller, Rose Eisen, lernten sie einander kennen. Mit der Fotokünstlerin besuchte Müller-Lentrodt gern Ausstellungen. Rein freundschaftlich, sagt er. Einmal brachte die Mutter ihre Tochter mit zu einem Treffen. Da fiel sein Blick auf sie.
Die Germanistin: Zara Safaryan-Müller wurde vor vierzig Jahren in Armenien geboren. Mit zwanzig kam sie nach Deutschland. Die Germanistin brennt jedoch vor allem für französische Literatur und den französischen Film. Für ihren Mann, der in der französischen Kunst und Kultur gut bewandert ist, war es deshalb wohl etwas einfacher, ihr Herz zu erobern.
Der treue Ehemann: „Die Zeit des Casanovas ist vorbei. Der Casanova wechselt nicht mehr seine Frauen“, sagt sie. Seit zwölf Jahren lebt das Paar zusammen und hat zwei Kinder. „Ich habe mich ein bisschen geändert und bin nicht mehr so hinter den Frauen her“, sagt Müller-Lentrodt, „ich habe die andere Seite der Liebe entdeckt. Das heißt: Zusammenwachsen.“ Seit sie Kinder hätten, sei er immer familiärer geworden.
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Casanomade: Den Namen Casanova wollen sie beibehalten. 2018 gründen sie den Casanomade-Verlag. Das Kofferwort verbindet die Wörter Casanova und Nomade, erklärt Zara Müller-Safaryan. „Wir wollen, dass Menschen durch unsere Bücher mitreisen können. Es ist eine imaginäre Reise.“ Auch sie hat ein Buch geschrieben, vor drei Jahren ist es erschienen: „Die essbare Lust – Kochbuch Armenien“ – eine Reise in ihr Heimatland.
Die Kinder: Auch die Kinder in diesem Haus lesen gern. Nerven die Eltern mit den Büchern? „Manchmal schon“, meint der neunjährige Raphael, „wenn ich laut vorlesen soll.“ Seine ältere Schwester aber sei eine Leseratte. Lyra ist elf und besucht das Französische Gymnasium in Berlin. „Papa gibt mir Bücher zum Lesen, aber die langweilen mich“, sagt sie. Sie zeigt die Bücher, die sie interessieren: Cornelia Funke und Joanne K. Rowling. „Ich stehe eher auf Krimis und Fantasy und nicht auf griechische Mythologie, die Papa mir empfiehlt.“
Asterix und Obelix: Fühlen sich die Kinder nicht eingeengt in dem Zimmer mit den vielen Büchern? „Nein. Lesen ist schön und interessant“, sagt Lyra. „Aber ich gehe auch viel Skaten.“ Und einen Traum hat sie: Sie will eine zweite Katze, die Obelix heißen soll, damit ihr schwarzer Kater Asterix sich nicht allein fühlt. Weil der bei geöffneter Balkontür gern mal abhaut, muss er ab und zu an die Leine.
Die Schulkantine: Lyra will Ärztin werden. Auf dem Gymnasium habe sie gute Noten. „Man könnte den Unterricht ein bisschen lustiger gestalten, sodass man mit Spielen Mathe und Sprachen lernt“, findet sie. Und ganz dringend sollte das Essen in der Schule besser werden, „das ist bei uns eine Katastrophe.“ – „Bei uns auch“, pflichtet ihr der kleine Bruder bei, „Nudeln in Öl gebadet. Auf den Tellern kleben oft Essensreste. Der Milchreis ist ekelhaft.“ Lieber ist ihnen, was die Mutter zubereitet. „Mama kocht Ravioli, Reis oder Kürbissuppe, das nehmen wir in die Schule mit“, sagt Lyra.
Der Traum: Auch die Eltern haben Wünsche: ihre Wohnung sei zu klein. „Wir wollen raus aus der Stadt und ins Grüne ziehen.“ Sie träumen von einem Bauernhof mit Garten und Tieren. Nahe an Berlin soll er liegen, damit sie weiter die Bibliotheken und Kultureinrichtungen besuchen können. „Wir haben romantische Vorstellungen von einem Wohnungswechsel. Doch wir wissen, dass es schwierig zu realisieren ist“, sagt Matthias Müller-Lentrodt. Dabei kann ihnen wohl auch der Gott Hermes kaum helfen.
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