Der Hausbesuch: Feminismus als Befreiung
Die Marburger Professorin Ulrike Wagner-Rau war eine frühe Vertreterin feministischer Theologie. Ein Ziel war, weniger von Gott als Vater zu sprechen.
An der Uni Marburg gibt es ein Gebäude, das die Studierenden „Hogwarts“ nennen. Weil es aussieht wie die Schule für Hexen und Zauberer, an der Harry Potter war. Gewissermaßen in Hogwarts also hat Ulrike Wagner-Rau evangelische Theologie unterrichtet.
Draußen: Ein Teil der Stadt Marburg liegt in einem Tal. Der Aufstieg zu Ulrike Wagner-Raus Wohnhaus ist steil. Wer sich auf halber Strecke umdreht und auf den gegenüberliegenden Hang schaut, sieht im Weiß des Himmels versinkend: das Marburger Schloss.
Drinnen: Tibetische Teppiche liegen auf dem Boden. An den Wänden stehen Bücherregale. „Das ist nur die Belletristik. Meine Fachbibliothek steht oben“, sagt Wagner-Rau. An ihren Büchern hängt sie. „Man weiß ja ziemlich genau, in welchem Lebenszusammenhang welche Bücher für einen wichtig gewesen sind.“
Sie: Wagner-Rau bietet Schokolade und Kekse an. Schenkt Kaffee ein, setzt sich. Ihr Blick ist eindringlich, ihre Wangen sind gerötet.
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Leben: 1952 wurde sie in Hamburg geboren – in eine Zeit des Aufbruchs hinein, des Friedens. „Insgesamt ist meine Generation in jeder Hinsicht glücklich“, sagt sie. Fügt hinzu: „Wir haben eine Situation erlebt, in der Frauen ungeahnte Chancen hatten. Wir stehen alle auf den Schultern der Frauen, die vor uns ganz andere Kämpfe durchgefochten haben.“
Die Hausfrau: Dass Wagner-Rau studieren will, sei für sie klar gewesen. Ihre Mutter indes war Hausfrau, „ihr Leben lang“. Sie habe ihr Potenzial nicht entfaltet. „Es gibt viele Geschichten von Frauen aus dieser Zeit, die letztlich unzufrieden waren mit ihrem Leben, aber offensichtlich nicht die Power hatten, das zu ändern.“ Auch weil die Folgen des Krieges noch allgegenwärtig waren.
Studieren: Durch die Jugendarbeit in der Gemeinde kam Ulrike Wagner-Rau zur Theologie. Weil das Theologiestudium so vielfältig sei und viele Perspektiven vereine, historische, philosophische, sprachwissenschaftliche, textwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche. Die meisten stellten sich darunter etwas viel Eindimensionaleres vor.
Zweifel: Es habe auch Zeiten gegeben, in denen sie dachte: „Kirche ist schon sehr eng.“ Ihre Einschätzung klingt moderat, verglichen mit anderen aus ihrer Generation, die die Kirche „unheilbar patriarchal“ fanden.
Feministische Erweckung: 1977 absolvierte Wagner-Rau ein Studiensemester am Institut des Weltrates der Kirchen in der Schweiz, wo sie auf Theologinnen aus aller Welt traf. „Ich erinnere mich an eine pakistanische Bischofstocher, die eine ganz radikale Feministin war. Die hat ihren Brüdern immer ordentlich Feuer unterm Hintern gemacht hat, wenn sie nicht zum Abwasch kamen.“
Befreiungstheologie: In Lesekreisen und auf feministischen Tagungen hat sie sich mit anderen Theologinnen zusammengetan. Feministische Theologie versteht sich als Teil der Befreiungstheologie. Vor allem in den 70ern und 80ern erhoben sich viele feministische Stimmen. Suchten weibliche Figuren in der Bibel. Interpretierten biblische Geschichten neu – aus der Perspektive von Frauen.
Exegese: Wagner-Rau sagt: „Die Bibel ist immer auslegungsbedürftig und auch immer ausgelegt worden. Sonst hätten wir uns schon längst nicht mehr damit beschäftigt.“ Ein weiteres großes Anliegen feministischer Theologie war es, die Gottesanrede zu variieren, nicht mehr nur von Vater zu sprechen oder vom Herrn. Gott sei „nichts, was in ein bestimmtes Bild passt, sondern was alle Bilder und Vorstellungen sprengt“.
Die Pastorin: 1978 machte Wagner-Rau ein Vikariat, bevor sie sechs Jahre als Pastorin arbeitete. Sie wollte Menschen begegnen, sich beschäftigen mit „Grenzsituationen“ des Lebens: Geburt, Heirat, Tod.
Psychoanalyse: Die Theologin hat sich immer selbst erforscht, war im Studium bereits „an allen Formen der Selbstreflexion“ interessiert, hat Freud gelesen, schon in der Schule. Später machte sie eine pastoralpsychologische Ausbildung. „Das war so ein zweiter großer Schub in den 70ern, die sogenannte Seelsorgebewegung.“ Wenn man einmal anfange, sei das ein lebenslanger Prozess.
Die Realistin: Sie suchte nach dem blinden Fleck, nach Widersprüchen. Man sei schließlich „nicht nur freundlich und liebevoll, fröhlich“. Man dürfe nicht verklären. Das gelte auch für die Kirche. Viele würden erwarten, dass sie perfekt sei. „Manchmal tut die Kirche vielleicht auch selber so.“
Die Doktorandin: Ihr Dissertationsthema spiegelt ihre Zweifel: „Zwischen Vaterwelt und Feminismus. Eine Studie zur pastoralen Identität von Frauen“ lautet der Titel. Selbstzweifel hätten sie in dieser Zeit geplagt, trotz ihrer sehr guten Examina. „Sehr viele Frauen, auch Kolleginnen, die ich kenne, haben immer wieder Selbstzweifel“, sagt sie. Auch heute noch.
Das Vorbild: Während der Promotion bekam Wagner-Rau den ersten ihrer beiden Söhne. Oft sei das Kinderkriegen eine „Selbstverhinderungsstrategie“, eine Stelle nicht anzunehmen, zu sagen, dass familiäre Gründe dagegen sprechen. Die evangelische Theologin und Dichterin Dorothee Sölle, die sie stark prägte, hat geschrieben, „dass sich die Frauen diese Alternative nicht einreden lassen sollten“, nicht wählen sollten zwischen Karriere und Kindern.
Privilegien: Spätabends, wenn die Söhne schliefen, hat Wagner-Rau gearbeitet. „Ich habe das immer als Privileg empfunden, dass ich das so machen kann.“ Ihr Mann, ebenfalls Professor, war 14 Jahre älter. „Als wir uns zusammengetan haben, war seine Karriere schon fertig, und dadurch hatte er Spielraum.“ Er musste sich nicht mehr beweisen.
Quotenfrage: 1999 habilitierte sich Wagner-Rau als erste Frau an der Theologischen Fakultät der Universität Kiel. Mit einer Sonderstelle für Frauen, sonst hätte das wohl nicht geklappt. Und auch der Ruf nach Marburg hatte etwas damit zu tun.
Frauenforschung: Marburg sei ein Ort, an dem Frauenforschung Tradition habe. Von den ersten Theologinnen mit Abschluss kamen viele aus Marburg. In der Alten Universität hängen Gedenktafeln für die ersten Theologiestudentinnen.
Heute: Vieles komme heute wieder. In Wagner-Raus letztem Predigtseminar an der Universität sei eine Gruppe gewesen, die stark auf inklusives Sprechen geachtet habe. Sie wollten alle Geschlechter einbinden, auch Trans-Personen, und wenn das nicht passierte, schritten sie ein. „Ich glaube, im Älterwerden wird man auch etwas milder und ist vielleicht nicht mehr ganz so konsequent. Als Jüngere hätte ich das auch durchgezogen.“
Alltag: „Einerseits mehr Ruhe und weniger Druck.“ Trotzdem werde sie noch sehr viel eingeladen. „Es ist ein Privileg, dass ich einen Beruf habe, wo nicht von einen auf den anderen Tag Schluss ist.“
Tod: Gerade bereitet sie einen Vortrag für eine Tagung vor zum Thema „Geschlechterdifferenz im Angesicht des Todes“. Sie liest Bücher von Männern und Frauen über den Tod. Zum Beispiel „Arbeit und Struktur“ von Wolfgang Herrndorf, der an Krebs erkrankte und sich das Leben nahm. „Die Pistole spielt in dem Buch eine große Rolle. Da könnte man sagen, man erkennt, dass Männer öfter auf solche Art und Weise Suizid begehen.“ Sie meint: mit Waffen.
Vertrauen: Der Tod sei etwas, „womit man sich auseinandersetzen muss, je älter man ist, desto mehr“. Sterben können, das habe aber auch mit Vertrauen zu tun. „Glaube ist ja eigentlich ein Vertrauen, kein Wissen.“ Das Vertrauen, „dass irgendwo etwas ist, was das Gute repräsentiert“, die Welt zusammenhalte – als „guter Grund“. Wagner-Rau schaut über den Tisch, fragt: „Jetzt ist Ihr Kaffee ganz kalt – wollen Sie noch einen haben?“
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