Der Hausbesuch: Über die Dörfer
Gerhard und Eva Fichter wohnen auf einem Bauernhof im Breisgau. Sie ist gesetzliche Betreuerin, er ist Winzer und lebt ein Vagabundenleben.
Er müsse nicht ewig auf dem Dorf wohnen; die meiste Zeit seines Lebens aber war es so. Zu Besuch bei Gerhard Fichter in Mengen, einem Dorf westlich von Freiburg im Breisgau.
Draußen: Um die Kirche gruppieren sich die alten Bauernhöfe im Dorf. Auch Gerhard Fichter und seine Frau Eva leben auf einem solchen – dem Hof seiner Großeltern. Ein Ensemble aus Scheunen, Ställen (jetzt ohne Tiere) und Wohnhäusern, die Mauern sind mit Reben bepflanzt. In den Siebzigerjahren wurde ein Mehrfamilienhaus neben das Großelternhaus gebaut. Dort wohnen sie in der oberen Etage; die untere wurde einer afghanischen Flüchtlingsfamilie mit vier Kindern vermietet. Eines von ihnen übt unterm Nussbaum im Hof Rad fahren.
Drinnen: Gleich hinter der Eingangstür ist die Wohnküche mit geordnetem Chaos und skandinavischem Design. Neben dem Sofa hängt der „Regulatör“ – eine alte Wanduhr. Eva hat sie aus ihrer Heimat unweit der Schweizer Grenze mitgebracht. Eva ist gesetzliche Betreuerin von erwachsenen Menschen, die nicht oder kaum für ihre Angelegenheiten sorgen können. An diesem Tag gibt es einen Notfall, Eva erfährt telefonisch davon. Sie muss gehen.
Rollen: Gerhard Fichter sagt, er habe schon sehr viele soziale Rollen inne gehabt – auch solche, die sich widersprächen. Er war Sohn und Vater, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Mieter und Eigentümer, Fremder und Eingesessener. Er war Verlassender und dann wieder Verlassener. Er ist Winzer, Bauer, Sozialpädagoge. Und er ist Mediator. Letzteres für Winzer und Bauern. „Es gibt so viele Konflikte, die nicht eskalieren müssten“, sagt Fichter.
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Fremd: In Mengen, wo er jetzt wohnt, ist Fichter 1954 geboren. Mengen sei ein offenes, evangelisches Dorf. Sein Vater kommt aber aus Achkarren, einer katholischen Gemeinde am Kaiserstuhl, 25 Kilometer entfernt. Als er vier ist, ziehen sie auf den kleineren Hof dort, da die Oma krank wurde. „Der Hof in Achkarren war Heimat“, sagt er, „nicht das Dorf.“ Anders als Mengen sei es abgekapselt, extrem konservativ, dreiviertel CDU gewesen.
„Es gibt Leute“, erzählt er, „die haben die Straßenseite gewechselt, wenn ich ihnen mit meiner Mutter entgegen kam.“ Warum? „Weil wir evangelisch waren.“ Kinder aber haben weniger Dünkel. „Ich hab dann mit Gleichaltrigen gespielt“, so hätte sich das mit der Zeit gegeben. Und überhaupt: Nicht weit von Achkarren ist Ihringen. Ihringen ist größer, „die SPD war stark“. Dort geht Fichter zu den Jusos, baut einen Jugendklub mit auf. Er ist in der Clique der Langhaarigen. „Wir waren sehr verschrien.“ Er verliebt sich unsterblich in Nadi.
Gezähmt: Nadi ist Sekretärin, „sie hatte ein bürgerliches Leben, bürgerliche Visionen“. Und er? „Ich habe mich total angepasst.“ Händchen haltend sitzen sie bei ihren Eltern vor dem Fernseher. Mit den Kumpels hängt er nicht mehr rum. Viereinhalb Monate geht das, dann trennt sie sich. Er bricht zusammen – Liebeskummer. Heute ist er froh: Er weiß nicht, wie lange er die Anpassung ausgehalten hätte. „Aber wenn du dich verliebst, das überfällt dich.“
Suchen: 1974 macht Fichter Abitur, zieht mit seiner neuen Freundin Marlene, deren Bruder und anderen in eine WG in Freiburg, studiert Mathematik und Geschichte. „Ich war ein paar Mal in Vorlesungen und habe gemerkt: Da komm ich nicht mit.“ Er wechselt zur Sozialpädagogik, mischt wieder politisch mit, Unistreik, Anti-AKW-Bewegung, Stromzahlungsboykott – „bis wir zur Geldstrafe verurteilt wurden“. Sein Politikverständnis sei „Über-Ich-orientiert, also mit Pflichtbewusstsein“. Nach dem Studium arbeitet er in einer Suchtklinik und erkennt dabei seine Grenzen: „Wenn jemand vor mir sitzt und heult, heule ich mit.“
Finden: Nachdem er von zu Hause ausgezogen ist, will er nichts mehr mit Landwirtschaft zu tun haben. In den Semesterferien hilft er doch auf dem Hof seines Vaters aus. Und macht nach dem Studium noch eine Landwirtschaftsausbildung.
Biohof: Die Eltern von Marlene und ihrem Bruder übergeben den Hof in Burkheim an ihre Kinder und an Fichter. Als einen der ersten in der Gegend stellen Fichter und die beiden ihn auf ökologische Landwirtschaft um. Sie halten Kühe, Ziegen, Schweine, Hühner, Ackerbau und Reben – alles, was einen ernährt. „Wir haben Jahre geschafft und geschafft, mit Spaß, mit Erfolg.“
Die Kunden hätten ihnen die Erzeugnisse aus den Händen gerissen, „am Kaiserstuhl gab es doch sonst fast nur noch Reben“. Bis Ende der Achtzigerjahre geht das so. „Dann aber entwickelte sich alles in die eine Richtung: größer, schneller, effektiver. Das wollte ich nicht.“ Zudem trennt er sich von Marlene, zieht aus. Das Weggehen sei „zu 80 Prozent“ eine Befreiung gewesen.
Betriebshelfer: Nach der Trennung findet er eine Arbeit als Betriebshelfer in der Landwirtschaft. Man müsse sich das wie Dorfhelfer vorstellen, nur eben auf Bauernhöfen, er wird dort eingesetzt, wo landwirtschaftliche Betriebe in Existenznot sind. „Ich habe schon extrem patriarchale, enge Verhältnisse erlebt, vor allem im Schwarzwald.“
Er sitzt mit den Menschen am Tisch, manchmal wird erst ein Gebet gesprochen. Sein Arbeitgeber fragt ihn, ob er nicht nebenher noch bei der Betreuung der anderen Betriebshelfer helfen könne. Das bringt ihn schließlich zurück zur sozialpädagogischen Arbeit. Außerdem lernt er dabei die personenzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers kennen und kommt auf diesem Wege zur Mediation. „Lösungsorientierte Ansätze, Allparteilichkeit – das liegt mir“, sagt er.
Liebe: Anfang der Neunzigerjahre lernt er Eva kennen und zieht bald bei ihr ein. Sie hat ein Kind, zwei gemeinsame Kinder kommen dazu. „Zu fünft in der Dreizimmerwohnung, es wurde eng.“ Sie suchen einen kleinen Hof mit Nebenerwerbslandwirtschaft und finden keinen. Es ist Evas Idee, nun doch nach Mengen auf den großelterlichen Hof zu ziehen, wo inzwischen seine Eltern wohnen. „Okay, es ist eine Chance, mich mit ihnen auseinanderzusetzen, dachte ich. Ich hatte das nicht getan, war nach dem Abitur einfach geflohen.“
Jobs: Bis 2003 arbeitet er als Betriebshelfer. „Es ist schwere Arbeit.“ Bei konventionell arbeitenden Betrieben auch mit gesundheitlichen Risiken: „Oft steht man im Pestizidnebel.“ Er sucht was anderes. Und findet es, wird Lohnabfüller. Er fährt mit einem Lkw durch die Weinbaugebiete und füllt den Winzern den Wein in Flaschen. Bis heute. „Es ist mein Vagabundenleben – eins, wo ich allein bin unter Menschen.“ Ansonsten: „Ich war noch nie außerhalb Europas und bin auch nur ein einziges Mal geflogen. Ausgerechnet nach Mallorca.“
Das Dorf: Heute engagiert er sich in der Dorfpolitik. Wie die Gemeinde lebenswert bleibt, wie die Infrastruktur erhalten werden kann. Und wie man es schafft, dass nicht alles zugeparkt ist. Sowieso, der Verkehr: „85 Prozent der Leute fahren zu schnell ins Dorf.“
Und Merkel? Er sieht nur Widersprüche: Sie sage, sie sei für Europa „und lässt Schäuble Griechenland kaputt sparen“. Sie lasse sich als Klimaschützerin feiern „und lässt die Automobilkonzerne regieren“. Sie behaupte, Afrika zu unterstützen und fördere dort privatwirtschaftlichen Imperialismus. „So sieht gutes Regieren nicht aus.“
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